Peter Handke: Die Wiederholung

Eine Reise in die Vergangenheit, die im geografischen Nichts endet

Peter Handke stammt aus Griffen in Südkärnten. Seine Mutter ist slowenischer Herkunft, in der Gemeinde im Jauntal wird ein slowenischer Dialekt gesprochen. Handke hat ihn nie beherrscht. Seine Slowenischkenntnisse beschränkten sich auf das Wenige in der Schule gelernte, und auch sein Interesse am Mutterland hielt sich in Grenzen. Erst nach der Matura ließen ein Übermaß an Freizeit gepaart mit Mangel an Barem, ausgeprägtem Einzelgängertum und Hang zur Exotik in Handke einen Entschluss reifen und, statt wie die Klassenkameraden nach Griechenland zu fahren, sich über die Karawanken ins trotz der geografischen Nähe kulturell eher fremde Nachbarland aufmachen.

Handkes alter ego, der Ich-Erzähler Filip Kobal, spürt dem in Jugoslawien verschollenen Bruder nach, den der Autor Handke nie gehabt hat. Der Text ist Rückschau, Standortbestimmung und Zukunftstraum zugleich, „in der Mitte meines Lebens“, wie Handke schreibt, und die Erzählung ist ihm längst zur Wirklichkeit geworden. Seit dem ersten Besuch zieht es ihn wieder und wieder in das neunte Land. So nennt Handke, ein slowenisches Märchen bemühend, das Ziel seiner Sehnsucht. Meist begibt er sich an dieselben Orte: in die alpine Region um den Triglav, an die Seen von Bled und Bohinj, in die Höhlenlandschaft des Karst. Durch die vielen Wiederholungen wird ihm Slowenien immer vertrauter. Zu Hause ist Handke in der Heimat der Mutter nicht; „trotzdem“, bekennt er in Abschied des Träumers vom neunten Land, „habe ich mich in meinem Leben nirgends auf der Welt als Fremder so zu Hause gefühlt wie in dem Land Slowenien.“

Manche Kritiker, Ludwig Hartinger etwa oder Martin Lüdke, halten Die Wiederholung für Handkes bestes Buch. Es gibt auch andere Stimmen. Der Rezensent einer großen deutschen Wochenzeitung warf Handke seinerzeit gar „Lesefolter“ vor. Benjamin Henrichs empfiehlt, „man müßte dem Erzähler nachreisen an die Schauplätze seiner Erzählung - die ‚Wiederholung‘ wiederholen und das Buch vielleicht unterwegs verlieren.“ Henrichs Vorschlag ist kein schlechter, selbst wenn „Handkes Naturbeschreibungen kaum einmal Lust auf Natur“ machen. Andererseits, mit dem Buch als Reiseleiter, liefe der Wanderer von heute kaum Gefahr, dass Verklärung und Idyll ihm den Blick aufs Wesentliche verstellen.

Die Reise beginnt am Bahnhof von Jesenice. Obwohl der Ort in ein grandioses Bergpanorama eingebettet ist, hat Handkes alter ego Filip Kobal kein Auge für die Schönheiten der Natur. Einen verheißenderen Ausblick verhindert der Qualm der Eisenwerke, verantwortlich für „das allgemeine Grau, das Grau der Häuser, der Straße, der Fahrzeuge, ganz im Gegensatz zu der Farbigkeit der Städte in Kärnten.“ Die Industrieanlagen haben sie in Jesenice größtenteils demontiert und die Reste bunt angestrichen, aber es hilft nichts. „Niederschmetternder“, schreibt die in Maribor geborene Autorin Daniela Schetar, „könnte sich das schöne Slowenien nicht präsentieren.“

Kobal stört es nicht. Statt sich in den nächsten Zug Richtung Adria zu setzen, macht er es sich in der Bahnhofgaststätte bequem. Das karge Ambiente ist ihm der ideale Ort, die eigene Jugend und das slowenische Erbe aufzuarbeiten. Später findet er einen noch besseren, als er im kaum befahrenen Eisenbahntunnel übernachtet. (Ein Mittagsschlaf wäre heute wohl noch drin, von zehn bis vier fahren tagsüber keine Züge, zumindest nicht nach Österreich.)

In Bohinjska Bistrica muss Kobal eine Entscheidung fällen. Zwei Wege stehen ihm offen, seine Reise fortzusetzen. Den komfortableren, sechs Kilometer lang und völlig dunkel, zieht er nicht ernsthaft in Erwägung, da er nach Jesenice offenbar keine zweite Eisenbahntunnelerfahrung machen möchte. Also die schweißtreibende Variante: Bis Ravne ist die Straße geteert, mündet dann in einen Feldweg und verliert sich in Bergpfaden. Selbst die verlässt Kobal kurz vor der Baumgrenze. Immer den geraden Weg verfolgend, arbeitet er sich über den Kamm, bis er, bevor ihn der Wald wieder verschluckt, über die Mauerreste einer alten Befestigungsanlage stolpert. Von fern glimmern die Lichter des Weilers Bača, in dessen Nähe der gleichnamige Fluss entspringt. Die Nacht aber verbringt Filip Kobal in einem aufgelassenen Bunker; das ist immer noch, denkt er sich, besser als im Tunnel. In Podbrdo, unterhalb von Bača am südlichen Ende der Röhre, hätte sich ihm die Möglichkeit zur Einkehr geboten. Er schlägt sie aus. Zwei Tage irrt Filip Kobal im oberen Bačatal umher. Er hätte nur dem Flusslauf folgen müssen, entlang der einzigen Straße, die den Wanderer bequem ins Sočatal führt.

Hier haben zahlreiche Schlachten und Gefechte des Ersten Weltkriegs stattgefunden, zwischen Österreich und Italien. Ernest Hemingway nahm als Sanitäter teil, wurde selbst schwer verwundet und verarbeitete die Erfahrung in A Farewell to Arms. Handkes Kobal wandert in aller Einsamkeit „flußaufwärts nach Kobarid oder Karfreit; der Isonzo zunächst unten im Tal, dann sich annähernd; jenseits Weideflächen mit fenster- und kaminlosen Steinhäusern fürs Heu.“ In Kobarid besteigt Filip Kobal dann einen Bus, der ihn fast durch den gesamten slowenischen Karst nach Süden bringt, zunächst wieder die Soča entlang, dann durch die Berge, bis er die Ebene um Vipava erreicht. Die Reise endet im geografischen Nichts und im biografischen Schwebezustand. Das letzte Satz in Die Wiederholung lautet: „Und … .“

Die Wiederholung
Die Wiederholung
343 Seiten, gebunden
Suhrkamp 2012
EAN 978-3518423202

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