Reportagezeichnungen aus dem Russland der Putin’schen Stabilität
Die Künstlerin Victoria Lomasko beschäftigt sich mit dem Genre der Graphic Reportage respektive Sozialen Grafik, das in Russland eine weit zurückreichende Tradition hat, aber mit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr wirklich präsent blieb, sondern tendenziell (und bewusst) von westlich orientierter Kunst verdrängt wurde. Lomasko orientiert sich an Zeichnungen von Soldaten aus dem 19. und 20. Jahrhundert oder an Werken von Häftlingen in Konzentrationslagern und im Gulag. Da schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit oft komplett fehlten, stellen diese Kunstwerke häufig die einzige historische Quelle dar. "Für mich war die Hinwendung zum Genre der Graphic Reportage vor diesem Hintergrund auch ein Protest gegen die Selbstbezogenheit der russischen zeitgenössischen Kunstszene und gegen die Entfremdung von Künstler und Betrachter. Ich wollte das Land und die Zeit, in denen ich lebe, verstehen, wollte Kunstwerke schaffen, die Menschen mit unterschiedlichster Vorbildung zugänglich sind, und wollte nicht zuletzt auch an sowjetische künstlerische Traditionen anknüpfen, anstatt sie zu verleugnen." , schreibt sie in der Einleitung.
Lomaskos Werke sind nicht einfach Graphic Novels aus Russland, dieser neumodische Begriff passt nicht. Ihre Zeichnungen erzählen weniger eine zusammenhängende Story, sondern vermitteln in ihrer Kombination und zusammen mit dem Begleittext eine bestimmte Situation, eine Stimmung oder ein Schicksal, indem eine Person oder eine Gruppe porträtiert wird. Lomasko legt auch Wert darauf, dass ihre Zeichnungen am Ort des Geschehens entstehen und fertiggestellt werden. Wie wenn ein Reporter unmittelbar berichtet. So entstehen keine fein ausgearbeiteten Kunstwerke, sondern starke Bilder, meist in Schwarz-Weiss, teilweise mit Zitaten der Abgebildeten ergänzt, manchmal nur skizzenhaft.
Im Buch "Die Unsichtbaren und die Zornigen" sind Reportagen und Zeichnungen versammelt, die von 2008 bis 2016 entstanden sind und so auch die künstlerische Entwicklung Lomaskos erkennbar machen. In zwei Blöcke ("Die Unsichtbaren", "Die Zornigen") unterteilt und chronologisch angeordnet erhält man als Leserin Einblick in gesellschaftliche Bereiche, die in der russischen Öffentlichkeit sonst kaum Raum finden. Lomasko porträtiert beispielsweise Personen, denen sie zufällig begegnet ist und die ins Reden gekommen sind. Pessimistische Menschen, die von der Gesellschaft nichts mehr erwarten und ihren Verdruss kundtun: "Der Westen will das schöne und mutige russische Volk zugrunde richten", sagt ein orthodoxer Aktivist.
Im Kapitel "Beten gegen den Generalplan" sind Gruppen von Orthodoxen porträtiert, die jeden Samstag bei jedem Wetter gegen die Stadtentwicklungspolitik des Bürgermeisters beten. Das finden nicht alle sinnvoll: "Ihr solltet lieber dafür beten, dass unsere Renten nicht gekürzt werden", wird eine Beobachterin zitiert.
Begleitet werden Ihre Zeichnungen von kurzen Texten, die sehr sachlich über die Hintergründe und über die Entstehung der Bilder Auskunft geben. Eindrücklich und gleichzeitig erschütternd ist beispielsweise Lomaskos Reportage über "Moskauer Sklaven", einer Gruppe von Menschen, fast nur Frauen, die 2012 durch Bürgerrechts-Aktivisten (wohlgemerkt nicht durch Behörden) aus den Fängen von Inhabern eines Lebensmittelgeschäfts befreit wurden. Unter erbärmlichsten Umständen, ohne Lohn, willkürlicher Gewalt ausgesetzt, schufteten sie fast rund um die Uhr, einige bereits über viele Jahre.
Im zweiten Teil des Buches, "Die Zornigen", sind Reportagen über Oppositionskundgebungen, die ab Ende 2011 in Russland vermehrt aufgeflammt sind, und über Gerichtsprozesse versammelt: "Im gegenwärtigen Russland sind Bürgerrechtsbewegungen etwas derart Seltenes, dass ich mich sofort dem Zeichnen jener Menschen zuwandte, die versuchten, sich ihre Stimme und Rechte vom Staat zurückzuerobern." In diesem Teil kommen auch erstmals Zeichnungen in Farbe vor. Lomasko berichtet über die zahlreichen Protestmärsche, die ab Ende 2011 stattfanden, über die weltweit wahrgenommene Protest-Aktion der Punk-Band Pussy Riot und deren Gerichtsprozesse aber auch über die zahlreichen weiteren politischen Schauprozesse, von denen die Weltöffentlichkeit kaum Notiz nahm, in denen unliebsam gewordene Bürger, häufig Journalisten oder Aktivisten, in absurden Vorführungen zu drakonischen Strafen verurteilt wurden.
Auffallend ist, wie sich der Zeichenstil von Kapitel zu Kapitel ändert. In ihrer Reportage über das LGBT-Filmfestival "Side by Side" , das 2013 stattfand und für das Lomasko als Jurorin engagiert wurde, verwendete sie beispielsweise dicke Striche und verzichtet auf eine detaillierte Darstellung, was zu starken, einprägsamen Bildern führt. Im Gegensatz dazu werden dann die Bilder über Bürgerrechtsbewegungen 2015 bis 2016 feiner, deutlich detaillierter und wieder farbiger.
Victoria Lomaskos Buch hinterlässt sehr unmittelbare Eindrücke, bestimmt unmittelbarere Eindrücke als das reine Text-Reportagen je könnten. Sie schafft Bewusstsein und Öffentlichkeit für Missstände, gibt Randgruppen eine Stimme, die sich nur sehr schwer und mit nicht absehbaren Folgen Gehör verschaffen könnten. Ihr gelingt eine Verbindung zwischen sozialem, politischem Engagement und klassischer russischer Kunst. Ihrem Werk ist viel Aufmerksamkeit zu wünschen.

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