Mit Tieren ins Gespräch kommen? - Eine philosophische Reise in das weite Land der Kommunikation
Im 20. Jahrhundert erlebte die Philosophische Anthropologie eine Blütezeit. Die Stellung des rätselhaften Lebewesens Mensch in Welt, Natur und Kosmos bewegte Denker wie Max Scheler, Ernst Cassirer und Helmuth Plessner. Kulturbildung, mutmaßlich eine Besonderheit des Menschen, schien in der religiös entzauberten Welt einen anthropologischen Vorrang zu begründen, einen Vorzug oder zumindest doch eine spezifische Eigenheit zu sein, welche diese Kreatur Mensch mehr als nur graduell von anderen Lebensformen unterscheidet. Menschen sprechen, Tiere nicht? Die Begabten unter ihnen ahmen Laute nach. Der Mensch übte sich darin, nicht nur Tiere leidenschaftlich zu jagen und herzlos zu erlegen - welch ein törichtes Triumpherleben des erbarmungslosen Vernunftwesens -, sondern rühmte sich auch, unausgesetzt sprechend, hochmütig räsonierend, seiner Fähigkeit zu verbaler Kommunikation. Der sprachbegabte Mensch übte sich weiter in Differenzierungen, blieb aber doch ein Tier unter Tieren, wenn er, sehr selbstbewusst, den Lebewesen, die er in Zirkusspielen verhöhnte und vorführte, die er nutzte, ausnutzte und ausweidete, die Kommunikationsfähigkeit absprach. In philosophischer Unbescheidenheit behauptete das Sätze bildende Tier Mensch, dass alle anderen Lebewesen, also Tiere, außerstande seien, zu sprechen, zu kommunizieren, sich mitzuteilen, verfügten sie doch nur über Gegenwart und über kein kulturelles Gedächtnis. Was große Philosophen wie Kant souverän bestätigen, bleiben doch zeitbedingte Fantasien, ein vernünftig anmutender Gedankennebel, Theorien, die noch immer die Lebens- und Denkräume der scheinbar so weltoffenen, aber sich den Naturkunden so oft verschließenden Philosophie, beherrschen. Dankenswerterweise werden solche Denksysteme nun kenntnisreich und klug in Frage gestellt.
Die niederländische Erzählerin Eva Meijer, philosophisch gebildet und versiert, insbesondere auch mit der modernen Philosophie vertraut, leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Entzauberung des stolzen Tieres Mensch, das offenbar so sehr von den Grenzen seiner eigenen Wesensart gekennzeichnet ist, dass er diese gar nicht zu bemerken scheint. Tiere, so berichtet Eva Meijer, bezeugen die Vielfalt der Kommunikationsweisen, aber der Mensch verkennt diese als Studien- und Forschungsobjekte, erkennt sie nicht als Gesprächspartner an. Ein Mangel sei es, uns fremde "Äußerungsformen" schlicht als "minderwertig" abzutun. Die Sprache lädt zum Austausch ein, und über Sprache berichtet die niederländische Autorin, die sich kundig über die Vielfalt der Wahrnehmungsformen und Erlebnisweisen äußert, sich mit Sprachformen vertraut gemacht hat, die weit über die Grenzen der klassischen Philosophie hinausreichen: "Um die Sprachen der Tiere als Sprachen anzuerkennen, müssen wir nichts Neues lernen - wir müssen sie lediglich auf eine neue Weise begreifen. Denn gesprochen haben die Tiere immer mit uns."
Zunächst mögen wir stutzen: Der Elefant trompetet - und die Töne, die dieser im Infraschallbereich äußert, gelten zumindest als menschlich unhörbar. Davon ausgenommen sind jene Menschen, die über ein absolutes Gehör verfügen und auch den stillen Donner der großen Rüsseltiere zumindest partiell vernehmen können. Die Elefanten brummen gewissermaßen, so kommunizieren sie mit Familienmitgliedern auch über große Entfernungen hinweg. Zudem verfügen sie über Emotionen, artikulieren sich doppelstimmig, mit dem Maul und dem Rüssel, und leben in komplexen Sozialverbänden, in Familien. Auch die Elefantenbullen, vermeintliche Einzelgänger, pflegen "echte Freundschaften". Diese Spezies verfügt über ein Bewusstsein vom Tod. Elefanten kennen Formen des rituellen Abschieds. Menschen trauern, Tiere auch: "Wenn ein Elefant stirbt, kommen andere Mitglieder der Gruppe oder der Familie zusammen und stellen sich rings um ihn auf. Sie trösten den sterbenden Elefanten mit dem Rüssel, berühren ihn vorsichtig. Ist der Elefant gestorben, so versuchen sie manchmal, ihn noch aufrecht zu halten oder ihn wieder aufzurichten. Danach bedecken sie den Leichnam mit Erde und Blättern. Jahrelang zieht es die Hinterbliebenen an die Orte zurück, an denen Tiere gestorben sind: Elefantenfriedhöfe."
Die Autorin spricht über Beziehungen, die sprachlich gebildet und durchformt sind, von Kontakten, die sich durch Lautmalerei und Ausdruck entwickeln, die sich auch verändern. Eva Meijer denkt, dass partnerschaftliche Beziehungen zwischen Mensch und Tier längst bestehen, nur oft nicht in dieser Weise als solche erlebt und reflektiert erfahren werden. Abhängig sei dies auch nicht von Wörtern oder Begriffen. Sichtbar werde die Partnerschaft in miteinander geteilten Erfahrungen, durch die auch im positiven Sinne Formen der Verbundenheit und Zugehörigkeit sichtbar werden, etwa beim Schmerzempfinden, das gesehen, wahrgenommen und bezeugt werden könne. Menschen seien, ganz nüchtern betrachtet, auch Tiere, vielleicht Tiere von eigener Art. Unterschiede begründen aber weder eine Hierarchie noch einen Machtanspruch.
Eva Meijer lädt dazu ein, Tiere zu verstehen oder verstehen zu lernen, "was sie sagen". Wichtig sei, die Tiere aufmerksam zu beobachten und ihnen zuzuhören, um ihre Welt zu begreifen und auch unsere Beziehung zu ihnen neu zu deuten, zu erleben und zu gestalten. Um dies zu begreifen, mag es hilfreich sein, auch tierische Perspektiven zu berücksichtigen: "Menschen sind aus Ameisensicht wahrscheinlich nicht allzu intelligent, da wir schlechter als sie zusammenarbeiten, aus Taubensicht nicht, weil unser räumliches Sehvermögen wenig ausgeprägt ist, auch aus Hundesicht nicht, weil wir den Geruchssinn nicht zur Orientierung nutzen." Auf den Intellekt mag der Mensch sich etwas zugute halten oder einbilden, auch auf seine philosophische Weisheit. Das Studium der Natur, manchmal genügt Teilhabe durch bloßes Zuschauen, und naturwissenschaftliche Forschungen, von denen die Autorin berichtet, brächten viele Menschen auch öfter dazu, staunend zu verstummen. Die Beispiele, aus der Insektensphäre bis hin zu Säugetieren, verblüffen oft. Analog lässt sich davon sprechen, dass Delphine oder auch Papageien sich untereinander beim Namen nennen: "Jedes Tier hat einen speziellen Laut, mit dem es sich einem unbekannten Delphin vorstellt und mit dem es andere ruft." Eva Meijer zeigt auch die Grenzen der klassischen Philosophischen Anthropologie auf, wenn sie feststellt: "Tiere kommunizieren. Und sie tun es auf eine Weise, die komplexer ist, als bisher angenommen. Und bestimmte Merkmale stimmen auch mit der Sprache der Menschen überein. Das stellt die Besonderheit, die Einzigartigkeit der Menschensprache zur Diskussion. Es macht erforderlich, darüber nachzudenken, wie präzise unsere Sprache tatsächlich ist und wer darüber zu entscheiden hat. So gibt es fraglos gewisse Eigenschaften, die Tiersprachen besitzen, die aber in der Menschensprache nicht vorkommen: Recht unwahrscheinlich erscheint mir etwa, dass Menschen Kommunikation mit Farbmustern oder chemischen Geruchssignalen verstünden. Menschengemachte Definitionen bevorteilen Menschen - vielleicht sollten wir deshalb beim Nachdenken über Tiersprachen abweichende Merkmale definieren."
Die niederländische Philosophin hat ein wahrhaft philosophisches Buch vorgelegt, das zum Staunen einlädt und anregt. Bestehende, anscheinend unverrückbare Gewissheiten etablierter Menschen- und Naturbilder werden befragt, die Wahrnehmung der Natur anders und wie neu erschlossen. Die Ebenen der Kommunikation reichen viel weiter, als die klügsten Philosophen zu allen Zeiten der Geschichte gedacht haben. Eva Meijer ermuntert auch, ohne dies explizit zu formulieren, zu einer freundlichen Begegnung mit Tieren, mit unseren Verwandten auf dem blauen Planeten namens Erde. Vielleicht mag die eine Leserin oder der andere Leser sich nach der Lektüre dieses erhellenden, faszinierenden Buches neu auf das Abenteuer Leben einlassen und sich auf gelingende, auch lehrreiche Begegnungen mit kleinen und großen Tieren freuen. Dieses ausgesprochen empfehlenswerte Buch bereichert die von Judith Schalansky seit einigen Jahren herausgegebene Reihe "Naturkunden" und schenkt allen Interessierten, gewiss auch philosophierenden Zeitgenossen, kostbare Augenblicke der Lese- wie Lebensfreude.
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