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Björn Kuhligk: Die Sprache von Gibraltar

Grenzen erkunden

In seinem jüngsten Lyrikband «Die Sprache von Gibraltar» tritt der deutsche Autor Björn Kuhligk nicht weniger als den Beweis an, dass auch alte Kunstformen wie Gedichte sehr wohl politisch sein können, ja noch mehr: Aktuell, zeitgemäss, brennend, aufwühlend. So werden Begriffe wie «Schlepper», «NATO-Draht» und «EU» nicht weiter abstrahiert oder verschleiert, sondern unmittelbar erwähnt und benannt. Es soll klar sein, worum es geht.

An den Grenzen Europas, in Melilla und Gibraltar, beobachtet und erfährt der Dichter unmittelbar das Geschehen: Er beobachtet (meist Afrikanische) Flüchtlinge bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen. Melilla und Gibraltar sind dabei Orte des Grenzübertritts, das «Ende von Europa», aber eben auch «der Anfang Afrikas». Es sind scharfe Beobachtungen, klare Bilder und konkrete Aufzählungen, die politische Strahlkraft erreichen - etwas doch eher Atypisches für zeitgenössische deutschsprachige Lyrik. Beispiel- und meisterhaft ist der Wunschkatalog auf Seite 27, der in schonungsloser Direkt- und Plumpheit aufzählt, was der Antrieb der Flüchtlinge, die sich auf die gefährliche Route begeben, alles sein könnte.

Während in Melilla, wie der Band auf Seite 37 erklärend erwähnt, ein «modellhafter» Grenzzaun die spanische Enklave von Afrika trennt, so ist Gibraltar - titelgebend für diesen Band - ein Jahr nach Kuhligks Reise Ende 2015 - durch die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Grossbritannien über den sogenannten «Brexit» aus einem weiteren Grund in den Medien präsent: Grosse Teile der Bevölkerung Gibraltars (das eigentlich in britischem Besitz ist) möchten Teil der Europäischen Union bleiben und nicht zum Spielball zwischen Grossbritannien und Spanien werden. Die Zukunft nach dem EU-Austritt Grossbritanniens scheint noch nicht geklärt.

Durch seine Darstellungen der Unmittelbarkeit des Geschehens gelingen dem präzisen Beobachter Kuhligk immer wieder spektakuläre Formulierungen (Beispiel: «eine Frau, die Anspruch auf Schicksal hat»). Brillant ist der Autor dann, wenn er in teilweise willkürlicher, fast schon kühner Direktheit eigene Kausalverbindungen entwickelt («Sie wollen Homöopathie»). Inhaltlich sind solche Zuschreibungen durchaus zu hinterfragen, aber dank seiner klaren Sprache erreicht der Lyriker bei der Leserschaft eine plausible Vorstellung davon, wie ein Fluchtgedanke zustande kommt und wie eine solche Flucht konkret abläuft oder womöglich auch jäh zu Ende geht.
Im Gegensatz zu Politikern muss ein Autor sich auch nicht dahingehend rechtfertigen oder äussern, ob er nun von Wirtschaftsmigranten oder Kriegsflüchtlingen spricht. Er könnte in solchen Fragen präziser sein, aber selbstverständlich muss er das nicht.

Schliesslich werden Kuhligks Gedichte im ersten Teil des Bandes geradezu ein Plädoyer für Direktheit und loten somit die Grenzen des Abstrakten in gegenwärtiger Lyrik aus. Das Schöne an der Literatur ist dennoch, dass eine gewisse Abstraktion - auch beim Leser - dazu führt, dass man nicht mit allen Ansichten des Autors übereinstimmen muss, auch auf politischer Ebene, sondern die entworfenen Bilder einfach erfährt und durch sie einen ergänzenden, atmosphärischen und persönlichen Blick auf ein Geschehen erhält, dass man sonst doch eher durch journalistische Arbeit gefiltert betrachtet.

Nur bei einer konservativen, kanonischen Herangehensweise werden damit auch die Grenzen der Lyrik erreicht. Man könnte dahingehend argumentieren, dass gerade Journalismus und Politik, NGOs und Flüchtlingshilfswerke für direkte Auseinandersetzung stehen - für Aufrufe, für Veränderungen, für Vorschläge, Hilfeleistungen und Analysen - und ebengerade Gedichte für die Abstraktion und Zeitlosigkeit der Ereignisse stünden. Doch just die Kraft der Sprache legitimiert diesen direkten, virulenten Blick auf brisante Ereignisse und nicht zuletzt legt ja gerade die Literatur nicht selten den Fokus auf den allfälligen «blinden Fleck» einer politisch-gesellschaftlichen Diskussion. Auch hier ist dies der Fall.

Im zweiten bis vierten Teil finden wir wieder klassischere Kuhligk-Gedichte, geprägt von stärkerer Abstraktion mit teilweise gewohnt konkreten Einschüben. Der Lyriker arbeitet gerne mit Aufzählungen, mit Repetitionen, mit Sprachgefühl und klanglicher Wirkung.

Gerade in seiner schonungslosen Klarheit ist der Band «Die Sprache von Gibraltar» aufwühlend und beeindruckend, wird phasenweise sogar zum Plädoyer für eine direktere, politischere Lyrik. Insbesondere die beiden ersten Teile sind geprägt von kraftvollen, eingängigen Zeilen, die wirken.


von Rafael Werner - 14. April 2017
Die Sprache von Gibraltar
Björn Kuhligk
Die Sprache von Gibraltar

Gedichte
Hanser 2016
88 Seiten, gebundnen
EAN 978-3446252912