Was ist links? – Sahra Wagenknechts Analyse
Sahra Wagenknecht erfuhr für ihr neues Buch, das im Jahr der Bundestagswahl 2021 publiziert wurde, Aufmerksamkeit und Anerkennung – überraschenderweise (oder vielleicht auch nicht) von Publizisten und Theoretikern, die eine kritische Analyse der lauen Geschmeidigkeit vorziehen, ganz gleich wie sie sich politisch selbst verorten würden. Die promovierte Volkswirtin, die mit Karl Marx' "Kritik der politischen Ökonomie" bestens vertraut ist, hat eine Studie vorgelegt, deren plakativer, forscher Titel herausfordernd klingt. Nach dem Wahldebakel der Partei "Die Linke" besteht Anlass, sich eingehend mit den Analysen und Beobachtungen der Autorin zu beschäftigen.
Sahra Wagenknecht seziert und kommentiert politische und gesellschaftliche Debatten in der Bundesrepublik Deutschland: "Die Diskussionskultur hat sich nicht erst mit Corona aus unserer Gesellschaft verabschiedet. Schon frühere Kontroversen wurden ähnlich ausgetragen. Es wurde moralisiert statt argumentiert. Geballte Emotionen ersetzten Inhalte und Begründungen." Diesem summarischen Verdikt muss man nicht kategorisch zustimmen, aber die Beobachtung, dass die Auseinandersetzungen an Schärfe zugenommen haben und dass das Maß an sprungbereiter Feindseligkeit exponentiell ansteigt, trifft zu. Wer wünschte sich heute bisweilen nicht, verborgen vor der Welt und abseits von allem Schaubühnen der Politik zu leben? Wagenknecht weist einseitige und gängige Antworten ab, indem sie die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft in Erinnerung ruft: "Das Meinungsklima wird nicht nur von rechts vergiftet. Die erstarkte Rechte ist nicht die Ursache, sondern selbst das Produkt einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft. Es hätte keinen Donald Trump und auch keine AfD gegeben, wenn ihre Gegner ihnen nicht den Boden bereitet hätten. Sie haben den Aufstieg der Rechten ökonomisch vorbereitet, indem sie soziale Absicherungen zerstört, die Märkte entfesselt und so die gesellschaftliche Ungleichheit und die Lebensunsicherheit extrem vergrößert haben."
Diagnostiziert wird also ein ganz anderer Klimawandel als der, von dem immer wieder gesprochen wird. Die "Meinungsführer" heute kämen aus einer "privilegierten Schicht": "Den typischen Linksliberalen dagegen zeichnet gerade das Gegenteil aus: äußerste Intoleranz gegenüber jedem, der seine Sicht der Dinge nicht teilt." Beispielhaft nennt sie die "Fridays-for-Future"-Demonstrationen: "Statt um Veränderung geht es vor allem um Selbstbestätigung, auch die Demo-Teilnahme wird so zu einem Akt der Selbstverwirklichung: Man fühlt sich einfach gut dabei, wenn man mit Gleichgesinnten für das Gute auf die Straße geht." Die Autorin spricht typisierend von einer Form der Arroganz, die möglicherweise der selbstgerecht auftretende Staatsbürger, der sich als linksliberal, weltoffen und vom Zeitgeist beflügelt versteht, gar nicht bemerkte und sofort empört zurückwiese. Wagenknecht würde sagen, ein solcher Zeitgenosse sei tolerant gegenüber allen, die dieselbe Sicht der Welt teilen wie er und blind bleiben für die ökonomischen Grundlagen, auf denen ihre Weltanschauung beruht.
Auch das "Schüren von Ängsten" sei mitnichten allein der politischen Rechten vorbehalten – man denke hier etwa an die von sich als links verstehenden Personen vertretenen Auffassungen über den Klimawandel, die als wissenschaftlich begründet etikettiert werden. Sahra Wagenknecht spricht pointiert von "Lifestyle-Linken". Im "Mittelpunkt linker Politik" stünden "nicht mehr soziale und politökonomische Probleme, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten. … Da der Lifestyle-Linke mit der sozialen Frage persönlich kaum in Kontakt geraten ist, interessiert sie ihn auch meist nur am Rande." Die Autorin ist überzeugt davon, dass die geschlechtersensible Sprache nicht im Geringsten reale Formen der Diskriminierung aufhebt. Zustimmung findet das übrigens auch bei vielen Lehrern, die Deutschkurse für Migranten erteilen und erfahren, dass die neue Sprachpraxis sich eher als veritables Hindernis beim Erlernen der deutschen Sprache erweist. Sahra Wagenknecht führt zudem aus: "Wer sich ungescholten an Lifestyle-linken Diskussionen beteiligen will, braucht also vor allem eins: genügend freie Zeit, um in Fragen korrekter Ausdrucksweise immer auf dem Laufenden zu bleiben." Darüber hinaus stellt sie fest: "Dabei wächst die Zahl der Denkgebote und Benimmregeln in einem Tempo, bei dem Normalbürger – also Leute, die sich tagsüber mit anderen Dingen als mit diskursiver Awareness beschäftigen – keine Chance haben mitzuhalten. Am Ende ist es für sie das Beste, einfach nichts mehr zu sagen." Auf eine weithin bürgerliche Institution gewendet: Kirchgänger erleben staunend, wenn im Sonntagsgottesdienst eine erzbischöflich gewandete, gut bezahlte Mitarbeiterin der Kirche dann statt des Pfarrers die Predigt hält, im Dienst der Kirche und in der Kirche von Machtmissbrauch und schulmeisterlich von 63 Geschlechtern spricht. Nun mag man über die Soziologie der Diversität denken, wie man will – welche frohe Botschaft aber wird hier den Notleidenden in der Kirche verkündet? Wer kann sich ernsthaft darüber verwundern, dass arme Menschen und viele andere sich nicht ernst genommen fühlen und sofort oder perspektivisch einfach weggehen? Mit Blick auf die Politik und ihre eigene Partei schreibt Sahra Wagenknecht: "Die frühere Vorsitzende der deutschen Linkspartei beschrieb das Politikverständnis des Lifestyle-Linken einmal offenherzig mit den Worten, es ginge bei politischen Forderungen vor allem »um eine Haltungsfrage und nicht um eine unmittelbare Umsetzungsperspektive«. Weshalb die Menschen Politiker wählen sollen, die sich zwar durch mehr oder minder edle Haltungen hervortun, aber durchblicken lassen, dass sie die reale Umsetzung der von ihnen aufgestellten Forderungen für eine nachrangige Frage halten, ist schwer zu sagen." Man mag in diesem Zusammenhang auch an den symbolischen Akt denken, als die Linkspartei gegen die Afghanistan-Rettungsaktion im Bundestag votiert hat – natürlich darf man gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr sein, aber wer versteht das linke Meinungsgeflecht bei dieser Abstimmung? Gregor Gysi sagte dazu im "Deutschlandfunk": "Ich hätte es viel besser gefunden, wir hätten geschlossen gesagt, ja, das ist ein Antrag, wir haben unsere Kritik dran, aber er beendet den Krieg, und da wir immer für die Beendigung des Krieges waren, stimmen wir dafür."
Sahra Wagenknecht bestreitet darüber hinaus, dass diejenigen, die sich heute als "linksliberal" verstehen, wirklich links sind: "Die Linksliberalen, also die Linksliberalen im modernen Wortsinn, sind genau besehen weder links noch liberal." In diesem Sinne kritisiert die Autorin exemplarisch die sogenannte "Identitätspolitik": "Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein. … Die Herkunft aus sozial schwierigen Verhältnissen, Armut oder ein Job, in dem man seine Gesundheit ruiniert, sind eher ungeeignet, um im Rahmen der Identitätspolitik als Opfer zu gelten. Da sich an identitätspolitischen Diskursen allerdings kaum Arme oder Geringverdiener beteiligen, hat das noch niemanden gestört."
Wer Sahra Wagenknechts gedankenreichen, differenzierten Darlegungen folgt, wird sich auch die Frage stellen, warum sich die Linke von der Kritik der politischen Ökonomie separiert, emanzipiert oder abgewendet hat. Dass eine marxistisch kolorierte Argumentation für Klarsicht sorgen kann und auch viele eher als konservativ geltende Publizisten überzeugt oder dort auf Zustimmung stößt, zeigt, dass die Stimme von Sahra Wagenknecht im Spektrum der politischen Meinungen berücksichtigt und ihre Analysen nicht empört abgewiesen, sondern ernsthaft diskutiert werden sollten. Die Autorin kritisiert energisch die programmatische Entkernung der Linken. Wenn Sie heute gefragt würden: "Was ist links?" – wie würden Sie darauf antworten? Oder würden Sie bloß mit den Achseln zucken? Wer das neue Buch von Sahra Wagenknecht liest, findet vielleicht mögliche Antworten auf den politischen Niedergang der Linken und begegnet zugleich einer fundierten Analyse der Gesellschaft, in der wir leben.
Prächtig ausgestattetes Historien-Epos
King's Land beruht auf historischen Vorlagen und ist wie ein Western inszeniert, obwohl es um Landgewinnung in Dänemark geht ...
King's LandEs muss ja nicht gleich Das Kapital sein
Zwei Möglichkeiten, sich Karl Marx anzunähern.
Karl Marx / Marx zum VergnügenBahnhöfe, KGB-Agenten und eine ausgeleuchtete Bärengrube
Truman Capote gibt einen seltenen Einblick in das Sowjetreich Mitte der 1950er-Jahre.
Die Musen sprechenWissenschaftliches Arbeiten: Von der Idee bis zum Manuskript
Wissenschaftliches Arbeiten ist eine Wissenschaft für sich, die erlernt sein will. Theisens Ratgeber bietet wertvolle Hilfe und ist nicht umsonst seit seinem erstmaligen Erscheinen im Jahr 1984 zu dem Standardwerk geworden.
Wissenschaftliches ArbeitenGeschichte des amerikanischen Widerstands der First Peoples
Aram Mattiolis wertvolle Einführung in das Thema des indianischen Widerstands.
Zeiten der AuflehnungPasolini und der Fußball
Valerio Curcios Buch schildert eine gleichsam körperliche wie intellektuelle Leidenschaft.
Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen