Weggefährten
Fast 70 Jahre währte die Ehe von Helmut und Hannelore, genannt Loki, Schmidt. Aus ihrem langen Leben erzählten der Kanzler außer Dienst und seine Gattin im Alter sehr gern. Sie standen im Fernsehen Rede und Antwort und publizierten Gesprächsbücher. Daraus wurden Bestseller, die nicht nur oft gekauft und verschenkt, sondern sogar gelesen wurden. An Helmut Schmidt wird dieser Tage häufig erinnert. Am 23. Dezember 2018 wäre er 100 Jahre alt geworden. Wer an Schmidt denkt, denkt zugleich an seine Frau. Reiner Lehberger, Professor für Pädagogik in Hamburg, Biograf von Loki Schmidt, porträtiert in diesem Buch die komplexe Liebes-, Lebens- und Ehegeschichte der beiden. Der feierlich klingende Untertitel "Ein Jahrhundertpaar" wirkt indessen etwas monumental und erinnert an eine Gedenkrede auf Helmut Schmidts Trauerfeier. Der damalige Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz würdigte den Verstorbenen als "Titan". Hätte der nüchterne Hanseat Schmidt das gehört, wie hätte er darauf reagiert? Vielleicht so: "Nun übertreibt mal nicht." Lehberger verklärt aber nicht, sondern stellt die Alltagsgeschichte der Eheleute Schmidt aus Hamburg-Langenhorn vor.
Helmut Schmidt und Hannelore Glaser hatten sich an der reformpädagogischen, künstlerisch ausgerichteten Hamburger Lichtwarkschule kennengelernt und angefreundet. Wer in Deutschland in den Jahren 1918/19 geboren wurde, dem war nüchterner Realismus fast mit in die Wiege gelegt. Lehberger beschreibt die sehr verschiedenen Elternhäuser konturiert. Helmut Schmidt wurde streng erzogen. Seine spätere Ehefrau wuchs behütet auf, auch atheistisch. Von der Familie Glaser war der junge Helmut sehr angetan: "Alle gingen freundlich und offen miteinander um, es gab eine große Herzlichkeit, keine ständige Angst der Kinder vor den Eltern. An Lokis Mutter schätzte er die emanzipierte Haltung und zupackende Art. Helmut Glaser musizierte mit den Kindern, er leitete sie zum Malen und Zeichnen an. Dass er seine Kinder liebevoll behandelte, sie in den Arm nahm, war eine Selbstverständlichkeit. All das habe Helmut bei seinen Eltern gefehlt, erzählte Loki später einmal." Pointiert schreibt Lehberger, dass Helmut Schmidt nicht für Loki, sondern auch für ihre Familie schwärmte. Respektvoller Freimut und beherztes Selbstbewusstsein zeichneten Loki auch später als Gattin des Bundeskanzlers aus. Behutsam wie klug agierte sie und entsprach nicht dem herkömmlichen Rollenmuster. Ihrem Selbstverständnis nach taugte die Ehefrau des Bundeskanzlers nicht zur Dekoration bei offiziellen Anlässen. Sie verfolgte auch eigene Interessen, etwa im Bereich Naturkunde und Naturschutz. Loki Schmidt setzte Akzente, aber keine Ausrufezeichen.
Der innere Zusammenhalt der Ehe Schmidt zeigte sich, so Lehberger, durch die "auffälligen Übereinstimmungen im Narrativ". Vielleicht haben auch beide erfahren müssen und auch von innen her gewusst, als eigenständige Persönlichkeiten, die sie waren und blieben, dass eine Ehe vor allem eine Ehe ist – und nicht der Himmel auf Erden. Zu schwärmerischen Romantikern eigneten sich beide nicht. Lehberger beschreibt auch – und nicht knapp – die "Dramatik der Ehekrise". Schmidt hat seine zeitweilig bestehende außereheliche Beziehung im letzten Lebensjahr noch einmal angesprochen. Die Dame neben Loki hieß Helga. Helmut Schmidt hielt Kontakt zu ihr bis ins hohe Alter: "Später, nachdem Helga R. schwer erkrankt war und in einem Seniorenheim in Hamburg lebte, besuchte sie Helmut Schmidt regelmäßig zu ihrem Geburtstag, überbrachte Blumen und zeigte so, dass er sie nicht vergessen hatte. Seine Frau, die davon wusste, fand das richtig." Die Ehe der Schmidts barg ihre Passionen und Passionszeiten. Lehberger zitiert eine Passage aus Helmut Schmidts Rede zum 40. Hochzeitstag: »Ansonsten nur noch ein Wort an Loki und an Susanne. Ich weiß: Ihr hattet es viel schwerer mit mir als ich mit euch. Ohne Lokis Geduld und Langmut und ohne ihr Verständnis wäre ich wohl ein anderer Mensch geworden – wären wir vielleicht nicht mehr zusammen. Ich weiß: Das ist nicht selbstverständlich. Es war dies für eine Kriegsehe nicht und in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren auch nicht.«
Das Schachspiel verband die Eheleute Schmidt. Die 1968er-Bewegung, mehr noch ihre Folgen, erfüllte beide mit Sorge. Die skeptische Beurteilung verfestigte sich erst recht, als der Bundeskanzler sich mit den Dimensionen des RAF-Terrors konfrontiert sah. Loki Schmidt war sich stets sicher gewesen, dass ihr Mann der "geeignete Kandidat" für die Aufgaben des Bundeskanzlers. Gegenüber Willy Brandt hegte sie Vorbehalte und vermutete bei ihm "fehlende Bodenhaftung". Schmidt sah Brandt differenzierter: "In ihrer Wahrnehmung Brandts unterschied sie sich von der Einstellung Helmut Schmidts, der in dem durchaus komplizierten Verhältnis der beiden Männer zwischen öffentlicher Kritik bis hin zu einer geradezu um Freundschaft werbenden Haltung geschwankt hatte."
Nach Brandts Rücktritt übernahm Helmut Schmidt das Kanzleramt. Der Sozialdemokrat agierte als Politiker souverän, mit "kühler Vernunft", argumentierte geschickt, wollte überzeugen. Sein immenses Fachwissen, auch seine rhetorische Überlegenheit erweckten Bewunderung, aber auch Neid und Ablehnung bis hin zu Feindseligkeit, bis weit in die eigene Partei hinein. Einige wählten damals die SPD trotz, andere wegen Helmut Schmidt. Seine Frau Loki, geschätzt und beliebt, stand ihm treu zur Seite.
Dennoch führten die Schmidts keine Ehe, in der vor allem die Wahrnehmung repräsentativer Aufgaben im Vordergrund stand. Manche öffentlichen Auftritte mussten absolviert werden, das gehörte dazu. Die Zweisamkeit wuchs und entfaltete sich eher verborgen vor der Welt. Bereits in der Schule hatte Loki ihren Weggefährten Helmut zu Naturbeobachtungen ermuntert: "Auf dem gemeinsamen Schulweg durch den Hamburger Stadtpark achteten sie – unter Lokis Anleitung – auch auf die Pflanzen- und Tierwelt und entdeckten so einiges, was ihnen auch in der Schule nähergebracht worden war. Im Laufe seines Lebens festigten sich bei ihm nicht nur gute Kenntnisse der heimischen Flora, sondern auch eine echte Leidenschaft für die Vogelbeobachtung … Am Brahmsee gehörte das Beobachten der Vögel zum täglichen Ritual der Schmidts. Das Fernglas stand immer griffbereit und hatten sie etwas entdeckt, machten sie einander sofort darauf aufmerksam. Sie kannten sich aus in der Vogelwelt, und wo der Normalbürger mit dem Erkennen von Amsel, Drossel, Fink und Star schon zu tun hat, gingen den beiden Vogelnamen wie Feldschwirl, Heckenbraunelle, Zilpzalp oder Trauerschnäpper nicht nur flott über die Lippen, sie konnten die Vögel auch sofort erkennen."
In der Vorstellung des Lesers entstehen bei solchen sensiblen Beschreibungen schöne Bilder eines jungen Paares, das einander entdeckt, beieinander bleibt und gemeinsam alt wird. Die Ehe hatte Bestand, durch alle Fährnisse hindurch. Die Ornithologie stärkte die Verbundenheit nicht weniger als die Liebe zu den bildenden und musischen Künsten. Wie sehr schmerzte Helmut Schmidt die massive Hörbeeinträchtigung im Alter. Die Musik liebte er noch immer, aber der Wohlklang war für ihn nur noch als Lärm und Krach vernehmbar. Philosophische Schriften las er resonanzvoll, hegte Sympathien für Marc Aurel, Immanuel Kant und Karl R. Popper. Siegfried Lenz stand den Schmidts nahe, literarisch, mehr noch menschlich.
Reiner Lehberger betrachtet das Verhältnis der Schmidts zum christlichen Glauben. Er berichtet über die Hambergener "Hochzeitskirche" und stellt fest: "Ihre Treue zur evangelischen Kirche und ihre Verbundenheit mit der Kirche in Hambergen bedeuten aber nicht, dass die Schmidts im Verlaufe ihres Lebens zu gläubigen Christen geworden waren. Im Gegenteil, für Helmut Schmidt, der sich selbst immerhin als einen »distanzierten Christen« beschrieb, wurde die Religionszugehörigkeit im Alter eher unwichtig." Lehberger konzentriert sich zu sehr auf späte Selbstauskünfte, die eine Distanz vermuten lassen, mehr noch Schmidts Scheu zeigen, sich zu Glaubensfragen zu äußern. Schmidt stand zwar nicht unbedingt der evangelischen Kirche als Institution, mit ihren oft sehr eigenen Satzungen und der spröden Amtlichkeit, nahe. Auch äußerte er Skepsis gegenüber manchen Glaubenssätzen. Aber er wusste von sich und erklärte öffentlich: "Einen guten Pastor habe ich immer gebraucht." Zudem bekannte er sich zum Vaterunser und zum Trost des christlichen Glaubens. Zu den vertrauenswürdigen Pastoren gehörte etwa der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Eduard Lohse.
Loki indessen hatte erst kurz vor der Hochzeit das Sakrament der Taufe empfangen und stand dem Glauben weitaus ferner als ihr Ehemann, der eine kirchliche Hochzeit ausdrücklich wünschte. Doch auch das erste Kind der Schmidts, der Sohn Helmut Walter, im Kriegsjahr 1943 geboren, sieben Monate später einer Hirnhautentzündung erlegen, wurde kirchlich bestattet. Lehberger berichtet: "Pfarrer Werner Kintzel, der den Erstgeborenen der Schmidts auch getauft hatte, hielt in der kleinen, kalten Friedhofskapelle eine kurze Trauerfeier ab. Die trauernde Mutter war mit dem Pfarrer fast allein. Nur zwei oder drei Offiziersfrauen waren gekommen, um Loki in dieser schweren Stunde beizustehen und Trost zuzusprechen."
Helmut Schmidt war weit weg, in Russland. Er diente als Offizier dem Regime von "Adolf Nazi", wie er selbst Hitler später genannt hatte. Lehberger legt dar, dass die Zugehörigkeit zu den NS-Jugendorganisationen nicht dazu führte, dass die beiden sich mit der Ideologie identifizierten. Die endgültige Abkehr aber vom Nationalsozialismus endete im September 1944. Schmidt wurde als Soldat zum Schauprozess gegen die Attentäter des 20. Juli abgeordnet und erkannte, dass die Nazis Verbrecher waren: "Am Abend öffnet sich Schmidt seiner Frau gegenüber und schildert seine Erregung, am nächsten Tag bittet er seinen Kommandeur, ihn von dem vorgesehenen Besuch eines weiteren Prozesstages zu entbinden. Dieser schließt sich seinem Urteil über den Prozess an und entspricht seiner Bitte."
Helmut und Loki Schmidt haben vieles gemeinsam durchgestanden und ertragen, natürlich auch einander, von Kindheit an über den "Deutschen Herbst" bis hinein in die Mühsal, die das Alter mit sich bringt. Auf ihre je eigene Weise waren beide auch unsentimental. Liebe ist nicht zu verwechseln mit Schwärmerei, Ekstase und Glücksgefühlen. Vielleicht eignet sich die Ehe auch gar nicht für Romantiker. Die Schmidts kannten die Prosa des Daseins. Lehberger schreibt: "Das Geheimnis geglückter Beziehungen und Ehen besteht wohl auch darin, bereit zu sein, das Positive zu bemerken, das Gemeinsame zu stärken und in schwierigen Phasen nicht gleich auseinanderzugehen. Nicht allen gelingt das, aber bei den Schmidts muss es so gewesen sein."
Einige Zeitgenossen, nicht nur in Deutschland, denken heute: Einer wie Schmidt fehlt heute. Ja, das mag stimmen. Helmut Schmidt fehlt. Aber Loki um nichts weniger. Auch darum ist es gut, dass Reiner Lehberger das Ehepaar Helmut und Hannelore Schmidt würdigt. Die beiden hätten vielleicht nicht allem, was über sie berichtet wird, zugestimmt – aber das Buch hätten sie ganz bestimmt voller Neugierde und gern gelesen.
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