Rezepte gegen den Faschismus und die kapitalistische Gesellschaft
Was ist unpolitisch? Eigentlich nichts - auch nicht das Essen! Trotzdem versuchen viele Menschen, der Politik - vielfach verständlicherweise - zu entkommen. Der Nahrungsaufnahme - selbsterhaltungsbedingt - nicht. Ersteres erscheint aus der Sicht des Verdrängenden (folgte man Freud) schon durchaus verständlich. Es muss jedoch als falsch bezeichnet werden. Denn sieht man sich nicht vor, kann die Barbarei schnell um sich greifen, was Deutschland von 1933 bis zur Befreiung 1945 alleine glänzend zu beweisen wusste. Richtet man aktuell den Blick zu Recht auf die noch immer nicht grundlegend aufgeklärten Nazi-Morde in der BRD, so wird ferner deutlich, dass dem Antifaschismus - und damit ist nicht alleine der "linke" gemeint, sondern durchaus auch der "bürgerliche" - eine bis heute besondere Bedeutung beigemessen werden muss. Antifaschismus ist eine Sache, die des Mutes der Bürgerinnen und Bürger bedarf, um dem braunen Pöbel auch auf der Straße erfolgreich begegnen zu können. Und wie kann einem der notwendige praktische Einsatz schmackhafter gemacht werden, als durch klassische Vorbilder - und vorzüglich bereitete Speisen!
Das an dieser Stelle passenderweise zu belobende Buch bietet beides: Sowohl reichliche Hinweise zur Zubereitung - soweit man des Kochens fähig als auch willig ist - klassischer deutscher kulinarischer Genüsse (das soll es geben!) als auch antifaschistische Lektionen. Hinzu kommen meist interessant beschriebene geschichtliche Aspekte der 1920er Jahre in Deutschland. Was also, so wird sich der geneigte Leser nunmehr fragen, kann das für ein Buch sein?
Es geht um Hannah R., eine Spartakistin, eine Revolutionärin, die als Schülerin des berühmten Malers Paul Klee am Bauhaus in Weimar studierte. Der Erste Weltkrieg war gerade für den deutschen Imperialismus verloren, in Russland siegte Lenins sozialistischer Anlauf und auch in der sogenannten Weimarer Republik stand bei nicht wenigen jungen Menschen "rotes" Gedankengut auf dem intellektuellen Speiseteller. Hannah R. sowie eine Reihe von Mitstreiterinnen und Mitstreiter gehörten dazu. Sie wollten Deutschland nicht den Reaktionären überlassen, nicht den sich Nationalsozialisten nennenden aufkommenden Faschisten, sie wollten ein neues, ein sozialistisches Vaterland. Dies bedurfte nicht reiner Theorie, sondern praktischer Arbeit. Hannah gelang es beispielsweise, Suppenküchen oder einen selbstverwalteten Kindergarten - nicht für den Nachwuchs der Bourgeoisie, sondern im Interesse von Arbeiterkindern - zu betreiben. Letzteres aus damaliger Perspektive nach den neuesten pädagogischen Konzepten sowjetischer Forschungsleistungen. Nicht zuletzt verfügte sie über die Gabe einer begnadeten Köchin, was damaligen Kämpfern und heutigen Lesern zugute kommt.
Wie kam das Buch aber zustande und warum ist sein Autor anonym? Letzteres scheint offensichtlich nicht beantwortbar - ersteres jedoch schon. Der Verfasser des zunächst in Italien mit großem Erfolg erschienenen Werkes erwarb im Auftrag eines Bekannten in der als beschaulich zu bezeichnende Kunstgalerie im italienischen Ascona ein kleines Aquarell von Paul Klee. Wie sich im Laufe der Konversation zwischen dem Verfasser und der Ladenbesitzerin ergab, war das Treffen nicht nur ein Glücksfall für Käufer als auch Verkäuferin, vielmehr entstand eine Bekanntschaft, die dieses Buch erst möglich machen sollte. Besagtes Bild war nämlich ein Geschenk Paul Klees an seine Schülerin Hannah R. Die Galeristin, welche sich als Enkelin besagter kulinarischer Expertin und auch politischer Kämpferin entpuppte, erzählte von ihrer Großmutter, übergab verbliebene Unterlagen und ermöglicht uns heute einen mehr als interessanten Einblick in diese Epoche - aus historischer als auch lukullischer Perspektive. Mehr will an dieser Stelle nicht verraten werden. Vielleicht, um die Gaumenfreuden zu beleben, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass nicht weniger als 83 Rezepte in dem 223 Seiten zählenden Buch zu finden sind. Selbst wenn man aus vielfachen eigenen Erfahrungen unter Umständen der aktuellen deutschen Küche lieber früher als später den Rücken zuzukehren gedenkt und möglicherweise den Gaumenfreuden der "alten" Linken skeptisch gegenüberstehen zu meinen muss: Es wäre ein großer Fehler! Selbst sich konservativ gebende Zeitgenossen (und-genossinnen) können - reduzierten sie das Buch auf die Rezepte - ihre vielfältige Freude finden. Als Vorspeise "Heringe nach Art der Kronstädter Matrosen" gefällig? Oder lieber "Entenbrust auf Wirsing"? Als Hauptgericht vielleicht "Luthers Schellfisch" oder "Rehkeule mit Maronen und Quitten"? Magenschließend wäre unter anderem - dem Buch historisch gerecht werdend - ein "Spartakistenpudding" empfehlenswert.
Wie meinte der italienische Weinexperte Luigi Veroneli treffend: "Dein Traum, Hannah: Die Proletarier ganz unterschiedliche Gerichte kennenlernen zu lassen - nicht umsonst nennen sie dich die Rote Köchin. Mithilfe des guten Essens möchtest du den Keim legen für die Ideen einer neuen sozialen Gerechtigkeit."
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