Die drei Grossen sind erwacht
Die journalistische Literatur ist mir die liebste, weil sie sich am alltäglichen Leben, an dem, was wir vor Augen haben, hören und spüren können, orientiert. Meine Faszination für dieses Genre geht so weit, dass ich sogar einmal eine Journalismus-Buchreihe (in der u.a. Herbert Riehl-Heyse, Ernst Müller-Meiningen jr, Jürgen Leinemann und Hermann Schreiber vertreten waren) herausgegeben habe. Im Laufe der Jahre hat diese Faszination dann ziemlich gelitten, doch Erich Follaths "Die neuen Grossmächte" (DVA, München 2013) hat sie wieder aufleben lassen.
Das liegt einerseits daran, dass mich Brasilien, China (diese beiden ganz speziell, ich habe dort, angestellt von Einheimischen, gearbeitet) und Indien mehr als andere Länder interessieren, und andererseits daran, dass der SPIEGEL-Korrespondent Follath packend zu erzählen weiss. Ja mehr: mit diesem Buch ist ihm ein grosser journalistischer Wurf gelungen, denn es bietet alles, was guter Journalismus leisten kann (und leider viel zu selten leistet): Information, Bewertung, Einordnung, Aufklärung, Unterhaltung. Und zwar mittels story telling.
Das gilt speziell für Teil I, in dem Follath Geschichten aus Bombay, Shanghai und Rio de Janeiro erzählt. Da liest man unter anderem von Adi Godrej, dem Chef einer indischen Firmengruppe, die etwa 10'000 Menschen beschäftigt, und der Brasilien charakterisiert als "ein Land, das uns in seinem chaotischen, erfinderischen Vorwärtsdrang sehr ähnelt." Und von chinesischen Schriftstellern, die "ein Recht auf Rausch, auf Drogen, auf Sex-Exzesse, auf Egomanie" reklamieren und von der als Junge geborenen Ballett-Tänzerin Jin Xing, "die über die Jahre zu einer guten Freundin wurde". Und man erfährt von den fast unwirklichen Sonnenuntergängen an Rios Praia Arpoadar, zu denen die Einwohner klatschen.
Die Teile II (da wird vor allem von den Regierenden berichtet) und III (hier erfahren wir einiges über Religionen) bieten hingegen nicht besonders aufregenden Journalismus der konventionellen Art, bei dem politische und kirchliche/religiöse Akteure etwas arg oft zu Worte kommen - und ihnen damit eine Bedeutung gegeben wird, die sie weder haben noch verdienen.
Was "Die neuen Grossmächte" auszeichnet, ist wesentlich des Autors Neugier und sein Fleiss. Er redet mit Menschen aus allen sozialen Schichten, sammelt an Wissenswertem, was es zu sammeln gibt und lässt den Leser (der natürlich auch eine sie sein kann) an seiner Entdeckerfreude teilhaben. Man glaubt zu spüren, dass ihm das Reportersein Lebenselixier ist.
"Wie Brasilien, China und die Indien die Welt erobern" verspricht der Untertitel. Das klingt etwas gar euphorisch, ja, fast schon vermessen (Kennt der Autor etwa die Zukunft?), meint jedoch keineswegs, dass der Reporter Follath ein Hurra-Jubel-Buch geschrieben hat, denn auch die grossen sozialen und politischen Probleme (darunter die China/Tibet-Problematik) kommen ausführlich und differenziert zur Sprache. Doch vor allem und ganz zentral: Es gibt in der Tat einen ausgeprägten Aufbruch-Geist in diesen Ländern. Erich Follath hat ihn gespürt und ihm Ausdruck gegeben.
PS: Eitelkeit gehört zu den Berufsvoraussetzungen der Journalisten und auch bei Erich Follath kommt sie nicht zu kurz. Fotos zeigen ihn mit dem Dalai Lama, Indira Gandhi, Lula da Silva, seine Quellen erfüllen oft seine eigenen Superlative ("die bedeutendsten westlichen Wirtschaftsbosse", "weltweit anerkannte Experten"), doch glücklicherweise verlässt er sich auch auf seine persönlichen Eindrücke. Und immer, wenn er das tut, ist es eine wahre Freude, ihn zu lesen: "In Bombay kann man leicht sterben, aggressiv ist der Verkehr, mörderisch sind die in manchen Gegenden tobenden nächtlichen Gangsterkriege. Niemals aber, keine Sekunde lang, lässt sich in dieser energiegeladenen, vibrierenden, alle Sinne überwältigenden Stadt eines vergessen: dass man am Leben ist. Und es scheint hier immer auch das Gegenbeispiel für das zu geben, was einen stört, für das, was man anprangern will."
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