Über Narzissten
Formen des pathologischen Narzissmus wurden in der Psychiatrie vielfach erforscht und diskutiert. Im digitalen Zeitalter sind die Möglichkeiten exzessiver Selbstdarstellung erweitert, ebenso gewinnen extrem agierende Personen über Medien an Einfluss – als "Influencer" etwa, und wer mag, kann hierzu auch bestimmte machtbewusste politische Akteure zählen. Von "toxischen Menschen" spricht Thomas Erikson. Wir begegnen solchen Charakteren, die sich selbst inszenieren und oft heimtückisch gegen ihre vermeintlichen Gegner und Feinde agieren, allerorten, in unterschiedlichen Situationen, im Alltag, in Beruf und Familie. In diesem Buch werden typische narzisstische Verhaltensweisen und Handlungsmuster stark vereinfacht beschrieben und veranschaulicht.
Narziss betrachtet in einer Erzählung aus der griechischen Mythologie sein Spiegelbild und verhungert dabei. Er stirbt an Selbstliebe. Von diesem Narziss leiten sich die Begriffe Narzisst und Narzissmus ab. Erikson sieht in dem Narzissten heute einen Mitmenschen der "neuen Normalität" und spricht von jenen Personen, die "unaufhörlich über sich selbst reden und der Welt ihr unglaubliches Wissen, ihre Fähigkeiten, ihre Erfahrungen und ihre Referenzen aufdrängen". Der Narzisst spricht also bevorzugt von sich selbst, lässt andere teilhaben an seinen Ansichten und Meinungen – und hält diese für wesentlich und maßgebend. Sie möchten "das Beste" bekommen, einfach weil es ihnen gebührt. Sie machen "Hunderte von Selfies", prüfen diese langdauernd, bis sie das Bild gefunden haben, auf dem sie sich gefallen. Narzissten gibt es überall, auch in der Welt der Bildung. Streben Menschen nach Wissen – oder nach Geltung? Manche Narzissten werden dann zu einer Art Partei: "Studierende bilden einen Mob, statt sich mit ihren ideologischen Gegner:innen in einer Debatte auseinanderzusetzen – sie schimpfen und setzen auf Aufruhr, um jene Redner:innen, die sie ablehnen, mundtot zu machen." Erikson zeichnet facettenreich Bedrohungsszenarien nach und möchte mit Beispielen wie diesen illustrieren, dass eine Kommunikation auf einer argumentativen Ebene mit Narzissten nicht mehr möglich ist. Er verkennt indessen, dass die hier geschilderte Fraktion von Studenten zwar als Formation ähnlich wie ein Narzisst agieren kann, aber dass die als "Mob" bezeichnete Gruppe nicht narzisstisch ist. Mitnichten muss es überhaupt "ideologische Gegner:innen" geben. Wer beispielsweise die Wahl der gendersensiblen Schreibweise – "Gegner:innen" –, die in der deutschen Übersetzung vorgenommen wird, kritisch diskutieren möchte, muss nicht ideologisch markiert werden. Die betreffende Person kann einfach nüchtern fragen: Warum ist das so? Wem dient es? In einem solchen Gespräch können schnell Emotionen vorherrschen und jede rationale Diskussion erschweren. Vielleicht würden sich narzisstische Persönlichkeiten in einer solchen Debatte zeigen, sowohl aufseiten der Befürworter der gendersensiblen Sprache als auch aufseiten der Gegner dieser. Es wären aber stets Einzelne, die sich narzisstisch verhalten würden. Mit Blick auf Eriksons Ausführungen bleibt die Frage: Sind empörte Studenten ein narzisstischer "Mob"? Ja, es gibt Personen, die – ob in akademischen Milieus oder anderswo – einen "Aufruhr" inszenieren können. Doch dass eine Gruppe narzisstisch agieren kann, darüber müsste nachgedacht werden. Es scheint begründete Zweifel zu geben, dass Narzissten, die "unrealistische Selbstbilder" haben und sich als Egoisten profilieren wollen, als Kollektiv auftreten können.
Erikson spricht ferner von einer "narzisstischen Kultur" und stellt fest: "Beim Narzissmus muss man bedenken, dass es sich nicht um eine Krankheit handelt – es ist kein Aspekt der psychischen Gesundheit im eigentlichen Sinne. Man kann ihn nicht mit Medikamenten behandeln oder lernen, mit ihm zu leben. Narzissmus ist eine Persönlichkeitsstörung." In Fachzeitschriften wie dem "Ärzteblatt" wird der Narzissmus als eine Erkrankung bestimmt. Nun hat Thomas Erikson eher ein populärwissenschaftliches Buch über Narzissmus verfasst. Gleichwohl hätten aber medizinische und psychiatrische Erkenntnisse vertieft berücksichtigt werden sollen. Der Autor beschreibt bestimmte Charakterzüge und Verhaltensweisen, die einer subklinischen Form des Narzissmus entsprechen: "Narzisst:innen denken im Wesentlichen nur an sich selbst, an ihre eigenen Erfahrungen, ihre Vorlieben und Bedürfnisse. Andere Menschen? Nun, die gibt es auch, aber hauptsächlich, um sie zum eigenen Vorteil auszunutzen." So treffend Erikson manche Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen auch wahrnimmt, so finden sich auch Übertreibungen: "Narzisst:innen sind der Meinung, dass sie in hohem Maße einzigartig und wirklich etwas Besonderes sind. Natürlich ist jeder Mensch auf seine Weise einzigartig, aber für Narzisst:innen bedeutet dies, dass sie Fähigkeiten besitzen, die fast niemand sonst hat. Sie haben andere Eigenschaften als andere Menschen." Besitzen Narzissten Eigenschaften, über die niemand sonst verfügt? Wenn Erikson hier die Narzissten an sich als so exponiert darstellt, entstehen beim Leser doch Fragezeichen und Zweifel, ob die narzisstische Persönlichkeitsstörung wirklich treffend erfasst und beschrieben ist.
Der Autor spricht seine Leser direkt an, wenn er typische Verhaltensweisen von Narzissten nachzeichnet – als Beispiel genannt sei der "Charme": "Narzisst:innen werden oft versuchen, dich zuerst mit Charme zu gewinnen. Mit Beleidigungen fangen sie eher selten an, da diese Methode in der Vergangenheit nicht allzu erfolgreich war. Vielmehr sagen sie Dinge, die dir noch nie jemand gesagt hat. Und mal ehrlich, wer genießt es schließlich nicht, von einer Ladung schöner Komplimente umgehauen zu werden?" Die saloppen Formulierungen überzeugen nicht – und Menschen mit einer gewissen Lebenserfahrung wissen zumeist auch maßlos anmutende Komplimente richtig einzuschätzen, ebenso die Person, die diese äußert.
Thomas Erikson hat über die Eigenschaften von Narzissten ein sehr leicht lesbares, aber in mancher Hinsicht fachlich nur sehr bedingt überzeugendes Buch verfasst. Gewiss gibt er Einblicke in die Lebensanschauungen von problematischen Zeitgenossen und hilft dabei, sich vor negativen Einflüssen anderer zu schützen. Eriksons Traktat schließt mit Appellen. Er wünscht sich, "dass wir uns alle gegenseitig unterstützen müssen, wenn wir sehen, dass die Dinge aus dem Ruder laufen". Noch sei die Mehrheit der Menschen nicht den "narzisstischen Strömungen in unserer Kultur" verfallen. Der Autor mag zwar einige Signaturen dieser Zeit erkennen und teilweise zutreffend beschreiben, doch sein flott verfasstes Buch ist bestenfalls ein Einstieg für alle, die sich mit dem Phänomen des Narzissmus beschäftigen möchten.
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