Die Musen sprechen

Bahnhöfe, KGB-Agenten und eine ausgeleuchtete Bärengrube

Die letzten Tage des Jahres 1955 verbringt Truman Capote in der UdSSR. Stalin ist seit drei Jahren tot, aber es herrscht immer noch kalter Krieg, so kalt wie die Außentemperaturen: zweistellig unter null. Ähnlich frostig ist das Klima im Innern der Sowjetunion: Nikolai Bulganin und Nikita Chruschtschow sind Regierungs- beziehungsweise Parteichef und beide sich gegenseitig nicht grün.

Von dem sich abzeichnenden Machtkampf der Rivalen bekommt Capote nichts mit. Er ist auf Einladung ins Land gekommen. Als Journalist gehört er dem Begleittross der Oper Porgy and Bess an. Zwei Jahrzehnte zuvor uraufgeführt, schildert die Handlung das Leben von Afroamerikanern in einer elenden Siedlung im tiefen amerikanischen Süden. Das Ensemble, aus lauter schwarzen Darstellern, tourt seit vier Jahren um die Welt. Der Doppelauftritt in Moskau und Leningrad wird, so viel ist sicher, den Nachrichtenwert der trotz seiner noch bestehenden Aktualität angejahrten Thematik beträchtlich erhöhen und die Berichterstattung keineswegs nur auf den Kulturteil der Medien beschränkt lassen.

Die Künstlertruppe reist im geschlossenen Zug und logiert an den allerersten Adressen. In der Eisenbahn, im Hotel, bei Pressekonferenzen und Sehenswürdigkeitenbesichtigungen achten jede Menge Aufpasser darauf, dass die Kontakte der Amerikaner zur einheimischen Bevölkerung nicht zu eng werden.    

Beste Voraussetzungen für einen abgedroschenen Bericht? Nicht mit Capote! Der Autor von Kaltblütig und zahllosen, oft auch sehr langen Reportagen kann einfach nicht langweilig schreiben. Die Hälfte der Handlung spielt im Zug, die einzigen Schauplätze auf festem Boden sind, neben den Bahnhöfen, Ostberlin und Leningrad (Moskau lässt Capote aus). Öde wird es nie: Mit wenigen Sätzen gelingt es dem Autor, mindestens zwei Dutzend Mitreisende zu charakterisieren: amerikanische Künstler, Hilfskräfte, Manager, Journalisten; sowjetische Betreuer, Dolmetscher, Uniformierte und den einen oder anderen KGB-Agenten.

Womöglich ist Capotes Leichtigkeit der, trotz aller politischen Widrigkeiten, überraschend ungezwungenen Atmosphäre geschuldet. Auch der Sowjetmensch ist manchmal das, was der letzte Teil des Kompositums verspricht, und Capotes Art – stets um Objektivität bemüht, nie wertend, nie nach der Schlagzeile aus (ein guter Journalist halt, wo gibt es das noch?) – kehrt diese menschliche Seite zuverlässig hervor. Einmal auch aus Trotteligkeit: Als Capote sich noch über den scheinbaren Verlust einer gerade teuer erstandenen Pelzmütze grämt – an welchem Ort kann er sie nur vergessen haben? – ist es ausgerechnet der KGB-Mann, der sie aufliest und ihm wiedergibt.

Am meisten menschelt es in Leningrad. Ein Russe interessiert sich sehr für die blonde Assistentin des Managements, schenkt ihr einen Gummihasen und lässt nicht locker. „Er will mit mir tanzen gehen“, klärt sie ihren Abteilgenossen Truman auf und fragt. „Meinst du, das ist in Ordnung?“ Die Antwort gibt sie selbst: „Ich meine, solange es beim Tanzen bleibt.“ Ungefragt fügt sie hinzu: „Und wenn nicht, auch egal.“  Was daraus wurde, verrät Truman nicht.

Derselbe Russe ist auch Capotes engster Kontakt. Gemeinsam besuchen sie eine Arbeiterkneipe in Leningrad. Sie ist fast so lange geöffnet wie eine New Yorker Bar, und die Wirkung des Alkohols auf Russen an der Newa scheint diejenige auf Amerikaner am Hudson bei weitem zu übertreffen. Neben dem Kater bleibt Truman die Erinnerung an ein Erlebnis mit allen Sinnen, „als hätte man mich in eine gut ausgeleuchtete Bärengrube gestoßen.“

Die journalistische Distanz ist verflogen, von Zurückhaltung keine Spur mehr: „Ich stand auf einmal in den körperwarmen, bierschweren Ausdünstungen von zirka einhundert brüllenden, streitenden, rauflustigen Männern, die rochen wie ein nasser Fuchs. Zu einem Dutzend saßen sie jeweils um einen der sechs Tische.“

Und erst das Personal! Trumans Objektivität schwindet endgültig angesichts der „einzigen Frauen im Raum“, seiner Wahrnehmung nach „drei identische Kellnerinnen von robuster Bauart, etwa so breit wie hoch und mit runden, platten Bratpfannengesichtern.“ (Auf politische Korrektheit, dem Übersetzer Marcus Ingendaay sei Dank, wird auch in der deutschen Version verzichtet; die Schwarzen werden mitunter noch, durchaus zeitgenössisch, als ‚Neger‘ bezeichnet). Am Ende aber steigt das Bedientrio in Trumans Ansehen: Sind sie es doch, die alles im Griff haben und für einen rundum gelungenen Abend sorgen.

Die Musen sprechen heißt Capotes Buch. Der Titel spielt auf die Begrüßungsrede eines Mitarbeiters des sowjetischen Kulturministeriums an, der mit Überschreiten der Grenze bei Brest-Litowsk für die amerikanischen Gäste  verantwortlich ist. Darin heißt es: „Wenn die Kanonen zu hören sind, schweigen die Musen. Wenn die Kanonen schweigen, hört man die Musen.“

Man schreibt das Jahr 1955; auch zehn Jahre nach Ende des letzten Weltkriegs ist das Innere der UdSSR dem zeitgenössischen US-Bürger und auch Europas Westen ähnlich fern wie heute Nordkorea. Capotes Reportage gewährt eine aufgrund der Verhältnisse zwar beschränkte, nur bedingt aussagekräftige Sicht auf das unbekannte Sowjetreich. Der Blick ist distanziert, aber klar; die Haltung neutral, doch nicht teilnahmslos: Die Leserschaft soll sich ein eigenes Urteil bilden.

Das Ergebnis lässt sich lesen, genau aus diesen Gründen. Und so ist Trumans Reportagebuch, sieben Jahrzehnte nach dem Ereignis, immer noch eine spannende Lektüre.

Die Musen sprechen
Marcus Ingendaay (Übersetzung)
Die Musen sprechen
192 Seiten, broschiert
Originalsprache: Englisch
EAN 978-3036961897

Prächtig ausgestattetes Historien-Epos

King's Land beruht auf historischen Vorlagen und ist wie ein Western inszeniert, obwohl es um Landgewinnung in Dänemark geht ...

King's Land

Wissenschaftliches Arbeiten: Von der Idee bis zum Manuskript

Wissenschaftliches Arbeiten ist eine Wissenschaft für sich, die erlernt sein will. Theisens Ratgeber bietet wertvolle Hilfe und ist nicht umsonst seit seinem erstmaligen Erscheinen im Jahr 1984 zu dem Standardwerk geworden.

Wissenschaftliches Arbeiten

Wenn Mainstream-Journalisten Bücher schreiben ...

Das Buch ist nicht nur sprachlich und stilistisch kaum zu ertragen, sondern auch inhaltlich.

YouTube - Die globale Supermacht

Wanderungen durch Goethes Welt

Ein reichhaltiges, tiefgründiges und ausgesprochen lesenswertes Buch über den alten Goethe und seine Werke.

Sterne in stiller werdenden Nächten

„Ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Werk mit bedeutendem Inhalt“

Vor einhundert Jahren erschien Thomas Manns Der Zauberberg. Mit dem Nobelpreis wurde es nicht belohnt, zum Ärger seines Autors.

Der Zauberberg, die ganze Geschichte

Was ist Wahrheit?

Eine Streitschrift von Peter Strohschneider, in der die Frage von Wahrheit, Wissenschaft und Politik schneidig und pointiert aufgeworfen wird.

Wahrheiten und Mehrheiten