Die Judenbuche – 19mal anders
"Wenn du dich diesem Ort nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast" – ist im Stamm der ‚Judenbuche' eingraviert und gilt als Motto für 19 Kurzgeschichten, welche unter dem Titel ‚So wie du mir' zusammengefasst sind. Wohl kaum jemand kommt im Laufe seiner Schulkarriere an der Erzählung ‚Die Judenbuche' von Annette von Droste-Hülshoff vorbei, sie gilt bis heute vielerorts als Pflichtlektüre. Die Geschichte rund um den unaufgeklärten Mord ist nicht einfach, einst wurde sie sogar als zu "merkwürdig" und "unverständlich" abgelehnt. Heute jedoch gehört ‚Die Judenbuche' mit einer Auflage von über sechs Millionen Exemplaren zu den meist gelesenen deutschsprachigen Werken des 19. Jahrhunderts. Im Nachwort erklärt Walter Gödden das Phänomen: "Der Text ist bis heute lesbar, spannend, modern geblieben. Und besitzt das, was nur groβe Texte auszeichnet: Appellcharakter, will sagen: Er animiert zum Weiterdenken – wie ein Krimi, bei dem das Ende offen bleibt und man nur zu gerne wissen möchte, wer der Täter ist. Und er animiert zum Weiterdichten, weil er durch seine Struktur nahezu unendliche neue Spielräume öffnet."
Die zahlreichen ‚Spielräume' genutzt haben neunzehn deutschsprachige Autoren und Autorinnen der Gegenwart, die einzelne Aspekte aus der Erzählung herausgreifen und eine andere Geschichte erzählen. Manche orientieren sich stark an der Vorgabe, beispielsweise die Variation von Robert Hültner, der mit ‚Die Winkelhannes-Protokolle' die Befragungen der einzelnen Personen aus ‚Der Judenbuche' vor Gericht schildert und die gesamten Prozessdokumente vorlegt. Hültner beschäftigt sich also mit der beim Originaltext zentralen Frage der Schuld, deren Zuweisung in demselben zwar vermutet, jedoch nicht bewiesen werden kann. Andere Geschichten wiederum sind viel lockerer mit dem Vorgabetext verbunden, immer aber werden Schuld, Gewalt, Gerechtigkeit und Rache innerhalb von Familie und Gesellschaft thematisiert.
Bei vielen Geschichten gibt es überraschende und radikale Wendungen und Aha-Erlebnisse. So etwa in ‚Ich dich auch' von Carlos Schäfer, der aus Sicht des Möchtegern-Künstlers Faber erzählt. Dieser will seiner angeblich todkranken Frau einen letzten Besuch bei deren Bruder ermöglichen, den er selber als absoluten Schwachkopf beschimpft. Aber "Viola will zu ihm, wir fahren, es ist ihre letzte Reise, und ich will, daβ sie die genieβen kann." Faber, der sich selber als besorgten Ehemann präsentiert, ist nicht der, für den er sich ausgibt. Es stellt sich heraus, dass er selber an schizophrenen Vorstellungen leidet und am Tod des eigenen Bruders mitschuldig ist, was dazu führt, dass ihm der Schwager einen Suizid ans Herz legt: "Du musst dir nur den Schemel zurechtrücken und selbst die Schlinge umlegen, damit man Spuren von dir daran findet. Ich hätte es sonst gern übernommen."
‚So wie du mir' beginnt mit dem Originaltext von Droste-Hülshoff. Es empfiehlt sich jedoch, die Lektüre von ‚Die Judenbuche' auf den Schluss zu verschieben oder dann nochmals zu wiederholen. Die Textsammlung ‚So wie du mir' ist Beweis dafür, wie unterschiedlich gelesen und erinnert wird. Manche der heraus gegriffenen Aspekte und Parallelen kommen erst bei wiederholter Lektüre ins Bewusstsein, nicht bei allen Geschichten ist sofort ersichtlich, inwiefern sie mit ‚Der Judenbuche' in Verbindung stehen. Gerade diese verschiedenen Leseweisen machen ‚So wie du mir' zu einem interessanten Experiment.
Auch wenn die einzelnen Krimi-Kurzgeschichten stark vom Original abweichen, ist eine Art Grund-Sympathie für Annette Droste-Hülshoffs Text (oder allenfalls eine grosse Faszination für Mini-Krimis) Voraussetzung für eine begeisternde Lektüre. Ansonsten ist es gut möglich, dass ‚So wie du mir' an die einstige etwas eigenartige ‚Pflichtlektüre' erinnert, durch die es sich ein bisschen schwerfällig durchzukämpfen gilt.

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