Denis Johnson: Die Großzügigkeit der Meerjungfrau

Aneinander vorbei leben

Von Denis Johnson, 1949 in München geboren, 2017 in Kalifornien verstorben, erschien jüngst ein letzter schmaler Band mit Erzählungen. Im deutschen Sprachraum war der US-amerikanische Schriftsteller – anders als Richard Ford, Jonathan Franzen und Paul Auster – zu Lebzeiten eher wenig bekannt. Neun Romane und mehrere Bände mit Kurzgeschichten hat er verfasst, preisgekrönt ist sein Werk auch – aber das hat, wie so oft, nichts zu bedeuten. Johnson schreibt eigensinnig, doch schmucklos. Einige seiner Sätze bergen unerzählte Geschichten. Andere rauschen nur so vorüber, in den Abgrund hinein, wie seine traurigen, verzweifelten Gestalten, vom Alltag geplagt, von manchmal unaussprechlichem Kummer gepeinigt. Vom Trost fehlt jede Spur. Selbst die Fragen nach dem Sinn des Daseins sind diesen Nachtgestalten abhanden gekommen.

Denis Johnson berichtet von Sensibilitätsverlusten unter nervös kommunizierenden Menschen. Einige werden suchtkrank. Andere begehen Verbrechen. Manche verlieren den Verstand. Sie hören einander zu, aber sie öffnen sich dem anderen nicht. In "Die Großzügigkeit der Meerjungfrau" beschreibt Johnson den Verlauf einer Konversation: "Wir saßen im Wohnzimmer und unterhielten uns über die lautesten Geräusche, die wir je gehört hatten. Einer meinte, es sei die Stimme seiner Frau gewesen, als sie ihm gesagt habe, sie liebe ihn nicht mehr und wolle die Scheidung. Ein anderer erinnerte sich an das Wummern seines Herzens im Moment des Infarkts. Tia Jones war mit siebenunddreißig Großmutter geworden und wünschte sich, nie wieder etwas so Lautes hören zu müssen wie das Geschrei ihrer Enkelin in den Armen ihrer sechzehnjährigen Tochter." Diese Personen glauben nicht mehr an die Liebe, aber sie sprechen noch davon, zumindest im Rückblick. Der Begriff wird noch verwendet. Ehegeschichten werden memoriert, etwa wenn eine todkranke Ex-Frau anruft, und der Erzähler nicht mehr weiß, ob er mit Ginny oder Jenny gesprochen hat: "Irgendwo in seinem Inneren hatte das Telefon die Nummer der Anruferin, Ginnys oder Jennys, natürlich gespeichert, aber ich suchte nicht danach. Wir hatten unser Gespräch geführt, und Ginny oder Jenny, welche von beiden es auch gewesen war, hatte mit meinen offenherzigen Entschuldigungen etwas anfangen können und war zufrieden gewesen – schließlich waren meine Vergehen bei beiden die gleichen." Auf Ginny folgt Jenny, auf Jenny dann Elaine. Die letzte Ehe ist auch nicht glücklich, aber von Dauer.

Ein schüchterner Schriftsteller kreuzt die Wege des Erzählers. Er möchte Dramen schreiben. Hört der Erzähler unbeteiligt zu? Denis Johnson berichtet bloß. Er sieht aber, dass in einem Augenblick unerwartet die Schönheit dieser Welt, an die er dennoch nicht zu glauben scheint, gegenwärtig wird: "Man bereut Dinge, die man getan hat, und bedauert, was man an Chancen ungenutzt hat verstreichen lassen. Dann wurden wir, wie es in einem Café in San Diego manchmal passiert – öfter, als man meinen sollte –, von einer schönen jungen Frau unterbrochen, die Rosen verkaufte." Der Moment bleibt haften, doch es folgt keine Geschichte, aber der Himmel über Johnsons Amerika reißt auf, wenn auch nur für einen Augenblick, aber immerhin.

Wenig später verschwindet ein anderer – ein Freund? – im Abgrund, ganz und gar. Er bringt sich um, hinterlässt keinen Abschiedsbrief, aber Telefonnummern und verschiedene Vermächtnisse. Der Erzähler erhält einen Ordner mit Rezepten "für jeden nur denkbaren Cocktail", denn er sei der beste Freund des Toten gewesen: "Tonys bester Freund? Ich war verwirrt. Ich bin es immer noch. Ich kannte ihn kaum." Und sonst? "Als ich aus meinen Zwanzigern herausgekrochen kam, hatte ich zwei kurze, unglückliche Ehen hinter mir, und dann fand ich Elaine. Fünfundzwanzig Jahre im letzten Juni, und zwei Töchter. Liebe ich meine Frau? Wir kommen gut miteinander aus. Das Gefühl, uns beglückwünschen zu können, hatten wir nie."

Noch trostloser zumute ist dem Patienten Mark Cassandra, der ständig Briefe schreibt, die er nie verschickt. Er ist Insasse einer Klinik, offenbar eine geschlossene psychiatrische Einrichtung. Ihm hört schon lange niemand mehr zu. Ob er die Medikamente nicht verträgt? Oder ob er wahnsinnig wird? Er stammt aus einer bigotten Familie. Die Großmutter spricht von Teufeln und Dämonen. Mark schreibt an Jennifer Johnston, der er in der fünften Klasse verträumt nachschaute und die ihm "eine Nachricht mit zwanzig Herzen durch die Reihen geschickt habe". Und heute? "Ich hab schätzungsweise fünfzehn oder sechzehn solche Angelhaken in meinem Bauch, mit Schnüren zu Leuten hin, die ich seit ewigen Zeiten nicht gesehen hab, und das ist einer davon. Aber nur damit du Bescheid weißt. In den letzten fünf Jahren bin ich ungefähr achtmal verhaftet und zweimal angeschossen worden, nicht beide Male wegen der gleichen Sache, sondern je einmal wegen zwei verschiedener Sachen usw. usw., und ich glaube, irgendwann bin ich auch überfahren worden, aber daran kann ich mich nicht mal mehr erinnern. Ich hab ein paar tausend Frauen geliebt, aber du bist, glaube ich, die Nummer eins auf der Liste. Das ist alles, Leute, Ende der Durchsage." Wieder ist Liebe nicht mehr als ein Wort, ein Wort zu viel. Mark, für den sich niemand mehr ernsthaft interessiert, seine ratlose, frömmelnde Verwandtschaft ausgenommen, macht so viele Worte, gehässig, verächtlich, grimmig. Er schreit und bleibt doch unbemerkt. Mark ist ein armer Teufel in einer Anstalt und wird konventionell therapiert: "Ich brauche keine großmütterliche Hilfe, ich brauchte ausgebildete, staatlich geprüfte Berater, die mir ein paar Dinge aufzeigen. Und es geht nicht, dass meine Grandma in der Familiengruppe die ganze Diskussion aufmischt und über Jesus Christus und Satan predigt, jedenfalls die letzten zwanzig Minuten der zweistündigen Sitzung, so viel Zeit hast du dir nämlich genommen für all dein Gewäsch über Himmel und Hölle, tausend Dank auch. ... Ich bin hier nicht von Dämonen umgeben. Das sind ausgebildete und geprüfte Berater." Die Briefe dokumentieren seine Aussichts- und Ausweglosigkeit zugleich.

In weiteren Erzählungen begegnen uns noch andere Gestalten, die ungeschützt und verloren wirken. Denis Johnson schaut hinter die Fassaden. Die Häuser in den amerikanischen Vorstädten stehen noch. Die seelische, emotionale Verwahrlosung wird überall sichtbar. Ein Autor tritt noch auf, ein anderes Ich? "Schreiben. Es ist leichte Arbeit. Was man dazu braucht, kostet nicht viel, und man kann diesen Beruf überall ausüben. Man bestimmt die Arbeitszeiten selbst, schlumpft im Pyjama zu Hause herum, hört Jazz und trinkt Kaffee, während sich ein weiterer Tag davonstiehlt. Man braucht nicht besonders leistungsfähig zu sein, meistens sogar überhaupt nicht. Wenn ich Alkohol trinken könnte, ohne die ganze Zeit blau zu sein, würde ich sicher so viel trinken, dass ich die Hälfte der Zeit blau wäre, und mein Pensum würde nicht darunter leiden. Man erlebt Phasen der Armut, Ängste, erschreckende Schulden, doch nichts währt ewig. Ich bin vom armen zum reichen und wieder zum armen Mann geworden, und das nicht nur einmal. Was immer einem passiert, man bannt es auf Papier, bringt es in eine Form, wirft ein Licht darauf. ... Manche meiner Kollegen glauben, ich wäre berühmt. Die meisten haben noch nie von mir gehört. Aber es ist schön zu denken, man beherrsche ein Handwerk, könne etwas bewirken. Einmal hab ich ein paar Kindern eine Geistergeschichte erzählt, und eins von ihnen ist in Ohnmacht gefallen." Doch etwas Tröstliches bleibt, mehr als nur die Spur einer Hoffnung. Manche Leser mögen sich spätestens leise wehren, skeptisch werden, grübeln. Stimmt das alles überhaupt? Teilweise ja, aber es ist nur eine Form von Literatur, mit Blick auf die künstlerische Existenzweise gewiss, ein Klischee mit Pointe. Der Autor als Kinderschreck? Wer schreibt, lebt viel unspektakulärer Die meisten Schriftsteller schreiben, natürlich, arbeiten diszipliniert, eher nicht inspiriert. Der Poet kann, muss aber kein Zyniker sein. Thomas Mann etwa wusste, warum er frühmorgens aufstand, den Pyjama auszog, sich normal ankleidete und an den Schreibtisch setzte. Er konnte, wollte und musste schreiben. Der Schriftsteller ist auch kein Artist auf dem Hochseil, nicht übermäßig trunk- oder gefallsüchtig und wenn, dann nicht mehr als ein ganz normaler Zeitgenosse von nebenan. Der Erzähler aus "Die Großzügigkeit der Meerjungfrau" findet Trost in Fantasien: "Ab und zu liege ich bei laufendem Fernseher da und lese irgendetwas Wildes, Altes aus einer der Volksmärchensammlungen, die ich besitze. Von Äpfeln, die Meerjungfrauen auf den Plan rufen, Eiern, die einem jeden Wunsch erfüllen, und Birnen, von denen Menschen lange Nasen kriegen, die später wieder abfallen. Dann stehe ich manchmal auf, ziehe mir meinen Bademantel über und gehe in unserem ruhigen Viertel spazieren, suche nach einem Zauberfaden, einem Zauberschwert, einem Zauberpferd." Vielleicht deckt sich diese innere Anschauung mit den Fantasien anderer Menschen, die vom Alltag erschöpft und deren Träume einfach Gespinste geblieben sind. Die Figuren in Johnsons Erzählungen rühren nicht an, erwecken aber Mitleid. Seine Geschichten machen auch traurig. Vielleicht mag sich der eine oder andere Leser damit trösten – und das ist keine luftige Fantasie –, dass es noch immer Schriftsteller gibt, die wissen, was sie tun, warum und für wen sie schreiben. Auch ihre Illusionen mögen zerstoben sein. Doch sie schreiben weiter und möchten einfach eine gute, berührende Geschichte erzählen. Wenn man Johnsons Band aus der Hand legt, so bleibt die Erinnerung an die schöne junge Frau mit der Rose. Liebend gern hätte mancher Leser sie noch eine Weile versonnen betrachtet, ihr nachgeschaut, sich an dieser schwebenden, schwerelosen Gestalt und ihrer Schönheit erfreut. Denis Johnson hatte einen einzigen leuchtenden Satz für sie übrig, aber dieser begabte Erzähler traute dem Licht nicht. Schönheit, immerhin, konnte er noch sehen und erkennen.

Die Großzügigkeit der Meerjungfrau
Bettina Abarbanell (Übersetzung)
Die Großzügigkeit der Meerjungfrau
Und andere Erzählungen
224 Seiten, gebunden
Originalsprache: Englisch
Rowohlt 2019
EAN 978-3498073992

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