Karine Tuil: Die Gierigen

Angst, Eifersucht und Falschheit

Ein intensives, rasantes Buch. Der Titel "Die Gierigen" charakterisiert treffend, warum es geht. Und spricht für die Übersetzung, denn das französische Original (L'invention de nos vies) sagt etwas ganz anderes, suggeriert eher etwas Schöngeistiges und das ist dieser Roman nicht, ganz und gar nicht, dazu ist er viel zu kraftvoll, furios und leidenschaftlich. Die Autorin Karine Tuil, Jahrgang 1972, gelernte Juristin, schreibt so wie sie in der Buchklappe abgebildet ist: mit Lederjacke und wilden Locken. Man kann sie sich bestens auf einem Motorrad vorstellen, am Steuer, und nicht etwa als Mitfahrerin.

Samuel, Nina und Samir sind eng befreundet. Samuel und Nina sind ein Paar, Nina und Samir haben eine Affäre. Samir setzt Nina ein Ultimatum. Sie muss sich entscheiden. Mitten im Hörsaal schneidet sich Samuel die Pulsadern auf. "Beim Aufwachen hatte er verstanden, dass sie sich für ihn entschieden hatte. Die Illusion, dass der erste Impuls nicht trügt. Dass er nicht manipuliert werden kann. Dass es keine Fehlerquote gibt. Die Fesseln der Theorie, das Gewicht der Vernunft, die Tyrannei der Moral, die Verlockungen des Konformismus und der Wiederholung - all das lässt uns erstarren. Die Geissel der Entscheidung. Ihre Risiken. Ihre Gefahren. Und doch muss man da durch."

Samir Tahar, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, ist getrieben davon, zur Elite zu gehören. Er bringt es zum erfolgreichen Anwalt in New York und Ehemann der Tochter eines der reichsten Männer des Landes, der gegen diese Ehe ist. Doch Samirs Karriere gründet auf einer Lüge: er bedient sich der Identität von Samuel, verschleiert seine muslimische Herkunft (seine Mutter lebt mit seinem Halbbruder in der Pariser Banlieu), gibt sich als Jude aus, nennt sich Sam.

Samuel wollte einst Schriftsteller werden, hat jedoch das Schreiben aufgegeben und arbeitet als Sozialpädagoge: er ist voller Selbstmitleid, fühlt sich ausgelaugt, als Versager. Nina modelt gelegentlich für Kaufhauskataloge. Sie sind bereits seit zwanzig Jahren ein Paar als sie eines Tages Samir im Fernsehen sehen. Sie nehmen Kontakt mit ihm auf, treffen sich mit ihm.

Samir und Nina kommen wieder zusammen, fühlen sich nach wie vor voneinander angezogen. Samir ist sexsüchtig. "Er ist brutal, nervös, sinnlich, aber auch zärtlich und leidenschaftlich - er agiert wie ein Getriebener und kaum haben sie sich geliebt, da sagt er ihr auch schon, dass sie jetzt gehen soll. Er will allein sein." Nina genügt der Sinnentaumel, "alles andere ist von einer Komplexität, die sie nicht entschlüsseln kann und will."

Nina trennt sich von Samuel, der in den Drogensumpf fällt, und zieht als Samirs Geliebte nach New York. Samir fühlt sich durch seine neue Doppelexistenz von exklusivem Familienleben und Geliebter regelrecht beflügelt, bis eines Tages plötzlich sein Halbbruder in New York auftaucht ...

Es ist eine spannende Geschichte von Verrat, Ambition und Gier, eingebettet in die Welt der Angst vor dem muslimischen Terror, die Karine Tuil erzählt. Interessanterweise empfand ich die beiden Männer, Samir und Samuel, überzeugender geschildert als Nina, die nicht wirklich ein eigenes Leben zu haben scheint.

"Die Gierigen" ist ein äusserst gelungener Mix von Gesellschaftsroman und Krimi und gibt dabei auch immer wieder aufschlussreiche Einblicke (Samuel wird zum gefeierten Schriftsteller) in die Welt des Schreibens. "Schreiben bedeutet, Missfallen zu akzeptieren", lese ich da unter anderem. Ein sehr wahrer Satz.

Die Gierigen
Maja Ueberle-Pfaff (Übersetzung)
Die Gierigen
479 Seiten, gebunden
Originalsprache: Französisch
Aufbau 2014
EAN 978-3351033781

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