Eine Reise in die Nacht
Seit mehr als vierzig Jahren publiziert Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke und Romane. Der staunenswert vielseitige Schriftsteller wählt oft einen nüchtern anmutenden Ton. Mitgefühl zeigt er in einer Sprache der Sachlichkeit, die aber weder Distanz noch Kälte ausstrahlt, sondern behutsam auf die Dimensionen der menschlichen Existenz, auf Liebe, Leid und Tod hinweist. Für das, was sprachlos macht, findet Schertenleib, der seit einiger Zeit in Irland lebt, Worte, mit denen er leise und mit großer Sympathie von Menschen und ihren Widerfahrnissen berichtet. Bekannt geworden ist er durch Romane wie "Die Namenlosen" (2000) und "Wald aus Glas" (2012). 2015 erschien zudem der Gedichtband "Licht, Strand", der Schertenleibs gesammelte Lyrik seit 1980 enthält. "Die Fliegengöttin", eine Novelle, ist nun neu erschienen.
Erzählt wird die Geschichte einer an Alzheimer erkrankten Frau namens Eilis, die mehr und mehr von der Dunkelheit umgegeben zu sein scheint. Sie wird umsorgt von ihrem alt gewordenen, liebevollen Ehemann Willem de Wit.
Nicht nur die Gebrechlichkeit des Alters beschwert Willem, sondern das "Gewicht des Versprechens", das sich das Paar in guten Tagen gegeben hat: einander zu lieben bis ans Ende der Tage und den geliebten Partner sanft gehen zu lassen. Der Begriff Sterbehilfe klingt professionell, kalt, schmerzhaft und traurig – auch so, als ob der eine Mensch dem anderen eine Leichtigkeit des Abschieds schenken wollte. Dass der Partner, der nicht gehen soll, endlich gehen darf? Willem sträubt sich dagegen, leidenschaftlich, von innen her. Eilis ruft fordernd, und auch Willem quält sich. Vor allem belastet ihn der Kummer, weitaus mehr als die nachlassenden Kräfte. Behutsam scheinen Erinnerungen auf, an junge Jahre, an die Tochter Siobhan. Was bleibt, sind Angst und Liebe: "Das laute, vorwurfsvolle Klopfen, das nun durchs Haus hallte, kannte Willem nur zu gut: Eilis schlug mit dem Spazierstock gegen die Metallstangen am Fußende ihres Bettes, langsam, stur, unermüdlich. Eilis, seine Frau, sein Kind. Es war höchste Zeit, sie aufzunehmen, zu wachsen und anzuziehen. Du sollst nicht sterben!, lautete sein erstes Gebot, das er nie aussprach, auch nicht vor ihr. Du sollst nicht sterben! Die Forderung: Du darfst nicht sterben!, verbat er sich, sie schien ihm ungebührlich, unverschämt. Sie würden im Wohnzimmer frühstücken, weil Eilis dort nicht nur den Himmel, sondern auch die Straße, die Autos und die Menschen beobachten konnte."
Eilis’ Welt wird immer kleiner und enger, aber Willems Liebe bleibt weiträumig. Ihre körperlichen und geistigen Kräfte schwinden dahin, ihre Sprache verändert sich, ihre Verständnisweisen. Eilis erfindet neue Wörter, weil ihr die alten Begriffe abhanden kommen. Willem sieht alles. Seit zwei Jahren pflegt er sie. Die Kontrolle entgleitet ihr, über die Blase und den Darm. Sie wird immer weniger, verabschiedet sich förmlich unentwegt, aber sie darf noch nicht gehen. Willem möchte auch nicht, dass sie geht. Er erinnert, wie sie einander entdeckten und ihre Zweisamkeit erkundeten. Vor schwerer Krankheit hat sich Eilis stets gefürchtet, "ihren freien Willen zu verlieren, abhängig zu sein von der Zuwendung anderer Menschen". Nun mag man darüber streiten, ob es überhaupt einen solchen freien Willen gibt – oder ob das nicht eher eine philosophische, letzthin akademische Frage sein könnte. Schertenleib erzählt davon, dass Liebe zuerst und vor allem Hingabe ist, Geschenk, auch Geheimnis. Verwandelt sich die Liebe in dieser Novelle in eine Gemeinschaft, in der eine Art Fremdbestimmung vorherrscht und sich ausweitet?
Eilis verliert sich förmlich, aber Willem hält sie fest, und ihre Krankheit bindet auch ihn. Sie ist abhängig. Er muss für sie Fürsorge tragen. Zugleich wird berichtet, wie sich die Beziehung verändert und entwickelt, wie die Sprach- und Wortspiele gleichzeitig Ratlosigkeit anzeigen, aber auch noch Augenblicke einer unbekümmerten Fröhlichkeit schenken. Zur Krankheit gehört der emotionale Kontrollverlust. "Stimmungsumschwünge" treten hinzu, "dunkle Launen" und "Jähzorn". Ist Eilis wirklich noch dieselbe Person? Ein Kapitel endet damit, dass auf ihrem Gesicht der "Anflug eines Lächelns" sich zeigt – und das folgende Kapitel besteht nur aus einem einzigen Satz: "Das Leben hat keinen Sinn. Auch eine Krankheit kann ihm keinen geben."
Willem und Eilis duschen nun anders gemeinsam als früher – "wie zart sich ihre bleiche Haut noch immer anfühlte", wenn er sie wäscht. Er denkt an die Hochzeit zurück. Ihre Liebe war sichtbar. Man sah auch, "dass sie an eine gemeinsame Zukunft glaubten". Die Zukunft hat viele Gesichter, auch das Alter, die Schwäche und die Krankheit gehören dazu. Willem weigert sich, gebunden auch an ein Versprechen, Eilis in ein Pflegeheim zu geben. Er ist ihr nahe, so gut es geht, auch wenn es an seinen verbliebenen Kräften zehrt. Schertenleib schreibt: "Wer krank ist, ist allein, ganz allein." Doch stimmt das? Kaum jemand wagte wohl zu widersprechen. Ob Eilis gehen möchte? Willem grübelt: "Wollte Eilis wirklich, dass er sie erlöste? Brauchte es mehr Mut, sich danach ebenfalls umzubringen oder sich den Behörden zu stellen, sich verurteilen zu lassen und mit der Schuld weiterzuleben?"
Als es auf das Ende zugeht, lacht Eilis, "herzhaft wie ein Kind, das noch nichts vom Leben weiß". Willem jagt im Schlafzimmer vergeblich eine Fliege. Sie sieht ihn, sie freut sich. Die Stunde naht. Eilis liebte Roy Orbisons Musik. Jedes Jahr schenkte Willem ihr eine CD. Eilis hört Orbisons Songs, ehe es ganz dunkel wird. Willem liegt neben ihr im Bett. Die letzten Fragen bleiben offen.
Ein Dichter der Romantik wie Joseph Eichendorff böte große Worte an, über die Seele, die mit ausgespannten Flügeln nach Hause fliegt. Philip Roth hätte nur vom Schmerz gesprochen. Das Alter sei ein Massaker, heißt es im Roman "Jedermann". Hansjörg Schertenleib denkt und schreibt anders. Seine Novelle beeindruckt durch ihre große Ernsthaftigkeit. Er verzichtet auf Antworten. Auch beschreibt er nicht alles. Aber Schertenleib sagt und zeigt genug, ohne sich verzweifelt zu empören über die unausweichliche Vergänglichkeit. Willem und Eilis haben nicht an das Licht am Ende des Tunnels geglaubt – nur an die Liebe. Das könnte genügen.
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