Betrachtungen eines Ungeschmeidigen – Botho Strauß als Essayist
Ein junger Philologe namens Friedrich Nietzsche, Philosoph zudem, erregte im späten 19. Jahrhundert Aufmerksamkeit mit widerborstigen, eigensinnigen und emphatischen Traktaten, die er "Unzeitgemäße Betrachtungen" nannte. Nietzsche schrieb über Arthur Schopenhauer, Richard Wagner und seine eigene Zeit. Der Philosoph sprach auch über das "Pathos der Distanz", an dem es ihm selbst so sehr mangelte. Der rebellische Protestantensohn, dessen "große Subversion und Selbstherrlichkeit" beiläufig von Strauß gewürdigt werden, hatte lichtreiche, provokative Gedanken auf seiner ganz eigenen Reise in die geistige Umnachtung. Anders, aber ähnlich wie der junge Denker verfügt Botho Strauß, weithin bekannt als Dichter, Dramatiker, Erzähler und Essayist, über eine freisinnige Diktion. Er schreibt freisinnig und ist niemandem untertan, weder dem liberalen Zeitgeist noch der Sprachödnis einer politischen Korrektheit. Auch dem Milieu wertkonservativer Traditionalisten gehört er nicht an. Dieser Schriftsteller ist einfach nur er selbst, vielleicht deswegen ähnlich unzeitgemäß wie Nietzsche damals. Kritische Prosastücke, aber auch Beobachtungen, Beschreibungen und Bekenntnisse, zur Welt des Theaters, zu wechselnden Zeitläuften und zur Kunst, sind in dem neuen Band versammelt.
1991 – die kommunistischen Systeme waren just kollabiert – schreibt Strauß: "Wir haben Reiche stürzen sehen binnen weniger Wochen. Menschen, Orte, Gesinnungen und Doktrinen, von einem Tag auf den anderen aufgegeben, gewandelt, widerrufen." Das Unvorstellbare war eingetreten, das "Unvorhersehbare" geschehen. Strauß spricht von der Ereigniskraft der Emergenz, das "Systemganze" sei verändert worden. Wer dies aus eigener Anschauung erlebt hat, erinnert sich heute, mehr als 30 Jahre später, von ferne an diese Zeit, die selbst die klügsten Deuter des Weltgeschehens nicht mehr in ihre Theorien einzuhegen vermochten. Dieser Essayist interessiert sich vor allem für Kunst, für die große politische Weltbühne nur bedingt. Er wünscht sich die "Befreiung des Kunstwerks von der Diktatur der sekundären Diskurse", vergleicht dies mit dem Ende des "skeptisch-verschlafenen Dahinwurstelns". Eingezwängt ins Sekundäre ist die Kunst gewiss, damals in den Reigen politischer Absichtlichkeiten – und heute? Der Künstler ist eine Zumutung für jede Didaktik. Er schreibt, malt, komponiert, schert sich auch nicht um die faden Begriffe von Philosophen und Romantikern, etwa um den Geniekult. Botho Strauß möchte verstehen, was der andere sieht und denkt. Zugleich weiß er: "Dem Verstehen der Andersheit sind Grenzen gesetzt."
Über den ängstlichen Oswald Spengler, der alles fürchtete, Verwandte, Behörden, Gewitter und sich entblößende Frauen, schreibt Botho Strauß. Spengler sei ein "Verstoßener" gewesen, ein "Träumer und Einzelgänger", doch so gern ein Napoleon hatte sein wollen und zu einem Mann "nicht der extremen, wohl aber der ekstatischen Rechten" wurde: "Stets dominiert der große Entwurf die Fakten, die Welt begreift man nur in groben Zügen, nicht in Detailansichten." Und heute? Begrenzte Kenntnisse etwa in der "politisierten Sphäre der Ökologie" böten neue Räume für Apokalyptiker: "Das verlangende und inkomplette Wissen in diesen Disziplinen bietet eine günstige Überlebensnische für modifizierten Kulturpessimismus und Untergangszauber." Botho Strauß denkt weiterhin über Heideggers "gedichtetes Denken" nach. Dieser sei ein Philosoph, der "nach Art des Mystikers schweigend" etwas sage. Emphatisch, ja feierlich lobt er Martin Heidegger: "Die eigentliche Unaktualität Heideggers besteht allerdings in der klassischen Schönheit seiner Philosophie, seines die Zeit durchragenden Denkens, das zu keiner Wiederkehr berufen werden muß, sondern vielmehr dem Wieder und Wieder gleichkommt, mit dem das große Kunstwerk empfangen und betrachtet werden muß." Diese hohe Wertschätzung macht nachdenklich, aber auch ein Dichter darf Philosophen emphatisch rühmen – eine Lobrede ist nicht per se einer Rechtfertigung bedürftig. Trotzdem wirkt dieser Hymnus auf Heideggers Philosophie nebulös und weihevoll. Der Schriftsteller sieht in ihm scheinbar ein Gegengewicht zu narkotisch redundanten Ethikdiskursen und "Bewußtseinsmodulen" der Gegenwart, in die die Philosophie dieser Zeit zerfallen ist.
Botho Strauß denkt über den sehr besonderen Rudolf Borchardt nach – ihn zählt er zu den "sprachmächtigsten Deutschen", nur dann jedoch, "wenn Macht in der Sprache sich davon herleitet, daß jemand souverän über ihre berufbare Geschichte verfügt und doch die wahren Reichtümer aus legendärer Tiefe, aus ruhloser Noch-nicht-Sprache gewinnt". Was Borchardt bewegte, sei ein "zutiefst religiöses Programm" gewesen: "Es will Ursprung zu Ursprung fügen, über alle Vergänglichkeit hinweg." Er vermochte zart zu dichten, zugleich zeigte er die "überspannte Gebärde als Kulturheros". Der weithin unverstandene Borchardt, jüdischer Herkunft, lebte von 1921 schon in Italien. Der Antike galt seine Leidenschaft. Wäre ein "Borchardt unserer Tage" vorstellbar? So fragt Botho Strauß und schreibt: "Wir nehmen die Verluste hin, einen nach dem anderen, und sind allesamt überzeugt, daß Rationalität uns besser tut als jenes schöne Wissen und daß jede Methode der Anpassung an Gegenwart wertvoller ist als die Lehre der Erinnerung." Borchardts "einzige Auflehnung" sei "gegen den Mythos der Jetztlebigkeit" gerichtet gewesen.
1993 erregte Strauß Aufsehen und rief massive Kritik hervor – mit dem Essay "Anschwellender Bocksgesang". Wer diesen in einer oft sehr eigenen Diktion formulierten Beitrag – seinerzeit in "Der Spiegel" publiziert – heute liest, erkennt darin eine Fülle unzeitgemäßer, problematischer Gedanken, auch eine Kritik an modernen wie postmodernen Wahrnehmungsweisen, etwa eine Kritik des Glaubens an den "ökonomischen Erfolg", Der Schriftsteller spricht von der "krankhaften Reizbarkeit" eines "eiskalten und indifferenten Öffentlichkeitsbetriebs". Doch ob dieser irritierende, eigensinnige und verstörende Beitrag erneut hätte publiziert werden müssen? Sein Autor hat es gewollt. Ein Schriftsteller wie Thomas Mann hingegen trat später in Distanz zu ihm problematisch erscheinenden früheren Arbeiten. Strauß hingegen scheint den "Anschwellenden Bocksgesang" – etwa hinsichtlich der Gedanken zu Migrationsbewegungen – nicht für revisionsbedürftig zu halten.
Im Jahr 2020 schreibt Botho Strauß, er wolle gern glauben, dass die "panmediale Herrschaft eines Tages zusammenbricht", aber er zweifle daran. Seine Opposition gegen die Macht der Bürokratie hält an. Er fantasiert über das "mißtrauischste aller Regime", in dem "komplizierte Staatsformulare" ausgefüllt werden müssten, um einen "Antrag auf Freundschaft" zu stellen. Auch zur Demokratie hegt er Gedanken. Diese werde nicht durch "präsidiale Ermahnungen" gestärkt, nicht durch Bekenntnisse und nicht durch die Aufforderung, diese gegen ihre Feinde entschlossen zu verteidigen: "Die Demokratie stärkt allein ihre Anfechtung. Sie ist das bestmögliche System zur Überwindung ihrer Infragestellung. Ihrem elementaren Funktionieren sind Störung und Gefährdung zuträglicher als Bestätigung und Bekenntnisproklamation." Erwartungsgemäß bleibt der Schriftsteller Botho Strauß weniger ein bekennend konservativer als ein bekannt kontroverser Denker, anregend, eigensinnig, provozierend und mitunter auch wuchtig formulierend. Verdienen seine Essays ungeteilte Zustimmung oder empörte Abweisung? Die vielfarbigen Beiträge des leidenschaftlichen Denkers Botho Strauß könnten ernsthaft bedacht, geordnet nachvollzogen und kritisch diskutiert zu werden, nicht mehr und nicht weniger.
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