Ein Stoff wie geschaffen für eine große inspirierende Verfilmung
Wien, am 22. Juni 1936: Im Foyer der Universität halten sich an diesem sonnigen Vormittag viele Menschen auf, unterhalten sich entspannt in kleinen Runden, eilen in die Vorlesungs- und Seminarräume. Plötzlich knallen laute Schüsse, vier an der Zahl. Die Anwesenden schauen erschrocken zum Ort des Geschehens, zur so genannten Philosophenstiege. Dort liegt ein Mann, regungslos. Es ist Moritz Schlick, der bekannte Professor für Philosophie und Begründer des in Fachkreisen berühmten "Wiener Kreises".
Schlick war sofort tot. Zwei Kugeln hatten sein Herz getroffen. Schlicks Mörder war sein ehemaliger Doktorand Johann Nelböck, der sich am Tatort widerstandslos festnehmen ließ. Doch warum war es zu dieser schrecklichen Tat gekommen? Welche Bedeutung hatte der Wiener Kreis in der Philosophie? Wie wirkten sich Antisemitismus und Nationalsozialismus in Österreich und Deutschland auf das geistige Leben jener Zeit und insbesondere auf den Kreis aus?
David Edmonds öffnet in seinem Buch den Blick in eine hochspannende Epoche der Geistesgeschichte, die einen prägenden Einfluss auf nachfolgende Strömungen in der Philosophie hatte und bis heute hat. Nicht nur das: Edmonds beleuchtet auch die weltweit einzigartige wissenschaftliche und kulturelle Strahlkraft Wiens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Freud, Wittgenstein, Mahler, Schönberg, Kelsen, Herzl, Popper, Hayek, Klimt, Schnitzler, Musil, Loos, Kraus – viele bedeutsame Namen schmücken diese Stadt, in der das intellektuelle Leben gedeihen konnte und sich Menschen aus verschiedenen Kulturen gegenseitig befruchteten. "Wien", so Edmonds, "war ein Ort, an dem sich Konversation und Diskussion frei entfalten konnten."
Das passierte allerdings weniger in der Universität. Sie war vielmehr eine "Bastion des Konservatismus", meint Edmonds. Professoren und Studenten wahrten spürbare Distanz zueinander. Der Ort der Inspiration und anregenden Diskussion war vor allem das Kaffeehaus. Auch für den Wiener Kreis. Hier begannen die ersten Zusammenkünfte. Auch später, als der Wiener Kreis institutionellen Charakter mit regelmäßigen Sitzungen im Mathematischen Seminar in der Boltzmanngasse bekam, blieben die Cafés lebendige Treffpunkte für philosophische Debatten oder Gespräche persönlicher Art.
Der Wiener Kreis wollte mit den philosophischen Traditionen radikal brechen, vor allem mit einer metaphysisch und theologisch ausgerichteten Philosophie. Wichtigster Impulsgeber für diesen Umbruch war Ludwig Wittgenstein. Sein Tractatus Logico-Philosophicus von 1922 – eine schlecht redigierte Vorgängerversion erschien ein Jahr vorher – war eine Sensation in der behäbigen Welt der Philosophie. Wittgensteins Buch schlug hohe Wellen. So klar und unnachgiebig hatte vorher noch niemand die Metaphysik, aber auch die Ethik und Ästhetik aus dem Kontext des wissenschaftlich "Sagbaren" eliminiert. Von den Mitgliedern des Wiener Kreises wurden Wittgensteins Aussagen begierig aufgenommen und leidenschaftlich diskutiert. Besonders Schlick und sein Mitarbeiter Friedrich Waismann bewunderten Wittgenstein und hätten ihn gern als Mitglied des Kreises gesehen. Aber Wittgenstein lehnte das strikt ab; stattdessen kam er zu kleinen Diskussionsrunden in Kaffeehäusern oder Schlicks Wohnung.
Moritz Schlick – selbst ein studierter Mathematiker und Physiker – versammelte im Wiener Kreis vor allem Philosophen mit einer mathematischen und naturwissenschaftlichen Ausbildung. Einige von ihnen erreichten später eine hohe Bekanntheit in der Philosophie oder Logik: Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Kurt Gödel, Victor Kraft, Otto Neurath oder Friedrich Waismann. Am berühmtesten wurde jedoch jemand, der dem Wiener Kreis damals nahestand, aber nicht zu ihm gehörte: Karl Popper. Schlick, so Edmonds, mochte Popper nicht, weil er dessen insistierende Art der Diskussion ablehnte. Für Schlick war Popper ein verbaler Raufbold, der seine philosophischen Gegner argumentativ vernichten wollte. Zugleich war Popper aber jemand, der den "logischen Empirismus" des Wiener Kreises am heftigsten kritisierte und mit seiner Logik der Forschung einen deutlich stärker beachteten wissenschaftstheoretischen Gegenentwurf formulierte. Mit seiner Konzeption der "offenen Gesellschaft", die er später in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, dem Kollektivismus sowie faschistischen und sozialistischen Ideologien entwickelte, schuf Popper die sozialphilosophische Basis der existierenden liberalen Demokratien dieser Welt.
Das öffentliche Aushängeschild des Wiener Kreises war der "Verein Ernst Mach". Er war 1927 von einer Gruppe radikaler Sozialisten ins Leben gerufen worden, die sich gegen die Macht der Kirche auflehnten und für eine wissenschaftliche Bildung einfacher Bürger eintraten. Die offizielle Vereinsgründung war im November 1928, und wichtige Mitglieder des Wiener Kreises übernahmen leitende Funktionen im Verein. Moritz Schlick wurde erster Vorsitzender. Aber die treibende Kraft für ein öffentliches Wirken des Wiener Kreises war der Linkssozialist Otto Neurath. Er wollte die wissenschaftliche Weltauffassung in das Leben der Menschen tragen und verknüpfte die Ideen des logischen Empirismus mit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Bald nach der blutigen Zerschlagung des sozialdemokratischen "Schutzbundes" im Februar 1934 wurde der Verein Ernst Mach verboten. Moritz Schlick hatte vergeblich auf die politische Neutralität des Vereins gepocht.
Für Juden und Sozialisten, aber auch für Liberale wurde die Situation immer schwieriger. Intoleranz und Diskriminierung nahmen auch im akademischen Umfeld bedrohlich zu. In diesem geistigen Klima geschah der Mord an Professor Schlick. Die Motive seines Mörders Johann Nelböck, der aus einem kleinbürgerlichen, ländlich-katholischen Milieu stammte, sind vielfältig. Seine Einlassungen zu der Tat veränderten sich mit der Zunahme antisemitischer und nationalsozialistischer Umtriebe in Österreich, die 1938 zum "Anschluss" des Landes an das Deutsche Reich führten. Nelböcks Hass auf Schlick begann schon viel früher. 1928 lernte er Sylvia Borowicka, eine Studentin Schlicks, kennen und verliebte sich in sie. Doch sie erwiderte seine Avancen nicht. Vielmehr eröffnete sie ihm, dass sie eine Affäre mit Professor Schlick habe. Ob das stimmt, bleibt im Dunkeln. Jedenfalls glaubte Nelböck, dass Schlick und Borowicka eine sexuelle Beziehung hatten, und entwickelte gegenüber Schlick "zwanghafte Rachegedanken", so Edmonds. Hinzu kamen später starke Existenzängste und eine tiefe emotionale Ablehnung der anti-religiösen Philosophie Schlicks, die sich schließlich zu einem tödlichen Hass steigerten.
Nelböck wurde 1937 zu einer Gefängnisstrafe von zehn Jahren verurteilt, konnte das Gefängnis aber bereits 1938 – nach der nationalsozialistischen Machtübernahme – auf Bewährung verlassen. Unterstützt wurde er bei seiner "Gnadenbitte" von einem gewissen Johann Sauter, einem Professor an der Universität Wien. Sauter war Katholik und Antisemit. Schlick sei, so Sauter, an der philosophischen Fakultät "der Exponent des Judentums" gewesen. Eine falsche Angabe, denn Schlick war kein Jude. Aber sie passte zu den antisemitischen und rassistischen Vorstellungen der Nationalsozialisten, die den Wiener Kreis und seine philosophischen Ansichten ablehnten. Nelböck änderte vor diesem Hintergrund ebenfalls seine Beweggründe: Seine Tat sei rein ideologisch motiviert gewesen.
Nach Schlicks Tod, der in der Presse große Beachtung fand, zerbröckelten die Aktivitäten des Wiener Kreises. Die meisten Mitglieder – vor allem jüdischer Herkunft oder politisch links orientierte – gingen ins Exil und versuchten unter sehr schwierigen Bedingungen eine neue Existenz aufzubauen. Dabei erfuhren sie nach Edmonds vielfach konkrete Hilfe und gegenseitige Unterstützung.
Was bleibt vom Wiener Kreis? Edmonds konstatiert einen intensiven Einfluss auf alle Strömungen der analytischen Philosophie. Dieser zeige sich in der Fokussierung auf Logik und Sprache, in dem Streben nach Klarheit, in der Ablehnung von Schwülstigkeit, im Aufdecken von Unsinn und im Misstrauen gegenüber Argumenten, die sich auf "Gefühle" oder "Intuition" gründen.
David Edmonds hat über die Geschichte des Wiener Kreises und das politische Umfeld ein großartiges Buch geschrieben: kenntnisreich, humorvoll und leicht lesbar. Etwas, was oft nur englischsprachigen Autoren gelingt. Es ist intellektuell anregend und emotional aufregend. Eifersucht und Hass, unterschiedliche Weltanschauungen mit psychopathischen Auswüchsen, ein kaltblütiger Mord, eine Stadt mit einem pulsierenden kulturellen Leben, ein einflussreiches Kapitel der Geistesgeschichte und Philosophie, ein politisches Klima der Intoleranz und des Antisemitismus und schließlich das Grauen der Nazizeit – ein historischer Stoff, der alles enthält, um daraus einen inspirierenden, packenden Spielfilm zu machen.
Erinnerungen an die Schrecken der NS-Zeit
Albrecht Weinberg verzichtet auf moralisierende Appelle, er schildert die Schrecken jener Zeit – aus nächster Nähe. Und damit ist alles gesagt.
»Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm«Wege zu Caspar David Friedrich
Rathgeb begibt sich in einer behutsamen Annäherung auf Spurensuche, um den Lesern zu einem besseren Verständnis des Künstlers zu verhelfen.
Maler FriedrichSchlaf als letztes Refugium des Widerstands
Ein brillant geschriebenes Essay über die 24/7-Verfügbarkeit im Spätkapitalismus und seine gesellschaftlichen Implikationen.
24/7Zäsuren und Kontinuität
Welchen Weg ging der deutsche Maler Max Beckmann, wie gelangte er an sein Ziel, wie erreichen seine Bilder ihre Wirkung? Diesen Fragen geht das reich bebilderte Buch nach.
Max BeckmannKlasse: ein (re-)animierter Begriff
Haben wir viel zu lange "Klasse" vernachlässigt? Hobrack erklärt die Begriffsgeschichte eines vernachlässigten 5l-Wortes...
KlassismusDer Holocaust als Graphic Novel
"Maus", die Graphic Novel, die Furore machte, erscheint in einer zweibändigen bibliophilen Ausgabe bei Fischer. Plus Extrageschichte.
Maus - Die Geschichte eines Überlebenden