Die zeitgenössische Wissenschaftsgläubigkeit
Heute wird gern "die Wissenschaft" beschworen, als sei die letzte Instanz – oft undifferenziert und dogmatisch. Man kann sich hinter "der Wissenschaft" wunderbar verstecken. So beschwören etwa Kirchenfunktionäre neuerdings beständig die "Humanwissenschaften", um ihre Reformideen effektvoll zu präsentieren und für deren Verwirklichung zu werben. Viele deutsche Bischöfe und Mitglieder des sogenannten "Zentralkomitees der deutschen Katholiken" tun auf dem "Synodalen Weg" dieses Bekenntnis kund, das das Credo ersetzt zu haben scheint. Was "die Wissenschaft" sagt – etwa die "Soziologie der Diversität" –, scheint einen unbegrenzten Geltungsanspruch zu besitzen. Das Phänomen der Epistemisierung und seine politischen Implikationen werden von dem österreichischen Soziologe Alexander Bogner in einem konzisen Essay untersucht.
Bekannt ist der Ausspruch des englischen Philosophen Francis Bacon: "Wissen ist Macht." Heute leben wir, die wir uns für aufgeklärt und informiert halten, in einer Wissensgesellschaft. Es gibt viele Zugänge zu Wissensbeständen und einen Reigen an Meinungen. Bogner betont die "Stabilisierungswirkung des Wissens", die auch zur Stabilisierung der sozialen Ordnung beitrage. Auf der "epistemischen Ebene" ergebe sich ein "Zusammenhalt", der auf der sozialen Ebene fehle. Wer heute nahezu rituell die Vielfalt lobend hervorhebt oder über nationale, kulturelle und geschlechtliche Identitäten spricht – was immer das sein mag –, stößt auf Resonanz, Zustimmung und Anerkennung. Wer aber von der Klassengesellschaft und von Armut redet, soziale Unterschiede benennt, die erkannt und überwunden werden müssten, stößt selten auf offene Ohren – und manchmal sogar auf Ablehnung und Ignoranz. Aber faktische Diskriminierungen und materielle Armut werden fortbestehen, selbst wenn die Sprache geschlechtersensibel gestaltet sein sollte.
Treffend kennzeichnet Alexander Bogner eine Signatur der Moderne: den Glauben an die Kausalität, den bereits Max Weber festgestellt hat. Alles scheint berechenbar zu sein. Bogner schreibt: "Die Grundlage allen Tüftelns und Recherchierens besteht im festen Glauben daran, dass die Welt ein in sich geschlossener, logischer Kausalzusammenhang ist." Das "intelligente Informationsmanagement" gilt selbst im Bereich der Partnersuche. In der Gegenwart virulent sind vor allem Verschwörungstheorien, etwa über die Corona-Impfung: "Führt das Impfen nicht zu Autismus? Und ist Corona nicht von Bill Gates erfunden worden?" Gegen die "fade Faktenwelt" werde opponiert, teilweise mit "einer brachialen Zerstörungswut": "Im Kampf gegen eine aktive Klima-, Impf- oder Aids-Politik hat sich ein unverwüstlicher Dissens etabliert, der politischen Widerstand in Form (pseudo-)wissenschaftlicher Gegenexpertise praktiziert (auf den Bestsellern von Coronazweiflern muss unbedingt mindestens ein Doktortitel vor dem Verfassernamen stehen). Nicht selten konsolidiert sich dieser Dissens mittels hartnäckiger Tatsachen- bzw. Wahrheitsverleugnung. Mit Bestürzung berichten akademische Beobachter, dass der Amoklauf gegen Rationalismus und Expertentum mittlerweile zum Massensport geworden ist." Die "alternativen Fakten" werden offensiv vorgebracht. Was tun? Bogner warnt vor einem Glauben an die "Allmacht des Wissens", der nur die "generelle Abneigung gegen Experten" verstärke: "Streit gehört zur Demokratie, aber die Demokratie bleibt nur dann lebendig, wenn man mehr Demokratie wagt." Demokratie wagen heißt auch: einander zuzuhören – und politische Diskurse nicht als "Wissensprobleme" zu verstehen. Mit Blick auf die Debatte um die Impflicht in Deutschland stellt Bogner fest, dass das "Vertrauen in die experten- und evidenzbasierte Impfpolitik" durch "widersprüchliche Darstellungen im Internet, durch Fehlinformationen oder gezielte Manipulationen und Verschwörungstheorien unterminiert" werde: "Die Digitalisierung erscheint auf diese Weise schon fast als die wahre Seuche, weil sie die Verbreitung gezielter Falschinformationen extrem beschleunigt." Umgekehrt werden zutreffende Informationen in gleicher Weise gestreut. Bogner verweist auf das wirkliche Problem. Nicht realisiert werde, dass der "Streit auf der Inkommensurabilität der Weltbilder" basiert. Die Einschätzungen von Experten seien für Impfgegner "irrelevant", zugleich bestehe "Diskussionsbedarf", nämlich "über die Unzulänglichkeiten einzelner Impfungen und manche Unsicherheiten des medizinischen Wissens". Bogner teilt eine weitere Beobachtung mit: "Doch viele Fachleute trauen sich an diese Fragen öffentlich gar nicht heran, um nicht sofort als Mitstreiter von den Impfgegnern vereinnahmt zu werden. Die real existierenden Vorteile, aber auch die Defizite der aktuellen Impfpolitik kommen auf diese Weise erst gar nicht auf den Tisch. Stattdessen richtet man es sich in den alten Stellungen ein und führt einen Wissenskonflikt (Wie sicher ist das Impfen?). Und dieser Streit wird so lange nicht beendet sein, wie man nicht realisiert, dass es sich eigentlich um einen Streit zwischen Weltbildern handelt."
Als weitere Beispiele führt der Autor Kriminalitätsdebatten an und die Debatte über die Klimaentwicklung. In vielen Bereichen gibt es Verhärtungen und Konfrontationen. Oft werde so getan, als sei "die Politik in ihren Entscheidungen vollkommen durch Zahlen, Daten und Fakten festgelegt". Alexander Bogner wirbt darum für einschlägige Informationen und zugleich für eine "anspruchsvollere Debattenkultur", ebenso für "Medienvielfalt". Das Problem sei auch die Illusion, dass die Politik eine "ungeteilte Gestaltungsmacht" habe. Es gebe "parastaatliche Institutionen", "Expertengremien" und "Lobbyisten", wie der Soziologe Helmut Willke dargelegt habe. Bogner empfiehlt eine "offene Auseinandersetzung" mit Andersdenkenden: "Gute Politik lässt sich nicht (oder nur selten) auf die richtige Lösung von Wissensfragen reduzieren, und politische Konflikte lassen sich auch nicht mit dem Verweis auf wissenschaftliche Wahrheiten befrieden." Wissenschaftliche Erkenntnisse werden die "faktenscheue Fundamentalopposition" nicht überzeugen, im Gegenteil: "Eine Politik, die sich – dank ihrer Übereinstimmung mit der Wissenschaft – als alternativlos versteht, provoziert eine Politik der alternativen Fakten." Es gebe auch keine "ideologiefreie Politik". Wie das einleitende Beispiel über die wissenschaftsgläubigen Kirchenpolitiker zeigt, sollen bestimmte Forschungsmeinungen aus einigen Sparten der Wissenschaften als scheinbar absolut gültige "wissenschaftliche Evidenz" auftreten. Die "Arena der Alternativlosigkeit" stimmt zudem überall verdrießlich. Doch gibt es einen demokratisch überzeugenden und pragmatisch tauglichen Ausweg, wie diese Debatten vernünftig geführt werden können?
Alexander Bogner verweist auf die Notwendigkeit von Diskursen in allen Bereichen von Politik und Gesellschaft. Niemand, der aufrichtig streiten möchte, darf sich von vornherein den Argumenten, die andere vorbringen, verschließen. Die Demokratie lebt auch von ihrer Konfliktfähigkeit. Bogner führt aus, dass die "wilden Proteste" über Klimapolitik und die "Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus" ebenso "lästig" wie "nützlich" sein können, weil sie daran erinnern, "dass selbst dann, wenn Werte-, Interessens- oder Glaubensfragen sich erfolgreich in Wissensfragen übersetzen lassen, die eigentlichen Probleme auch bei richtiger Beantwortung dieser Wissensfragen noch ungelöst sein werden". Die Demokratie lebt, wie Bogners instruktiver Band zeigt, vom offenen, lebendigen Diskurs, von aufrichtig geführten Debatten und vom gegenseitigen Respekt voreinander. Dies gemeinsam einzuüben und zu erproben, bleibt eine beständige Aufgabe für alle Bürger, die – wenn man so will – wirklich alternativlos ist. Oder?
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