In die Berge, aber nicht hinauf
Gemütlich geht’s zu auf den Dolomitentouren der Herren Gilbert und Churchill. Ihre Frauen haben sie mitgebracht, auch wenn sie ihnen bei ihren täglichen Touren bergauf manchmal lästig fallen. Dafür sind sie am Abend und nach dem Übergang zum gemütlichen Teil umso willkommener. Ein solches Rollenverständnis mag heute antiquiert erscheinen. Im Jahr 1864, als der Reisebericht der beiden Briten erschien, war es durchaus gängig. In Tirol, im Friaul und in Venetien gehörten Frauen hinter den Herd und nicht in Hosen und Wanderschuhe, sodass der Auftritt des legeren Quartetts bei den Einheimischen stets für gehöriges Aufsehen sorgte.
Die Berge interessierten Gilbert und Churchill nur als Kulisse und Studienobjekt. Hinauf wollten sie nicht. Klettern konnten andere besser. Gipfel wurden nur bezwungen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Doch waren der Maler Gilbert und der Botaniker Churchill so umtriebig, dass sie im Vorbei- oder Darübergehen manche Erstbesteigung inferiorer Bergriesen für sich beanspruchen durften. Der Londoner Alpinistenclub in der fernen Heimat dankte es ihnen und nahm sie mit Freude als Mitglieder auf.
Dennoch verstanden sich die Briten als Touristen. Auch dieses Bild hat sich inzwischen gewandelt und einige negative Konnotationen erfahren. Nicht so bei Gilbert und Churchill: Sie entwickelten ein Bewusstsein für die Region und sahen in den Dolomiten eher die landschaftlichen Reize als eine sportliche Herausforderung. Ihre Sichtweise vermittelten sie auch anderen Reisenden, die ihnen bald folgten und die pittoreske Gegend in ein Urlaubsparadies verwandelten. Dies alles geschah nicht zum Schaden der Einheimischen, die sich ein willkommenes Zubrot im harten Bergbauernalltag verdienten. Durch den Massentourismus hervorgerufene Umweltschäden waren im 19. Jahrhundert noch kein Thema.
Für den Leser ist der 300 Seiten starke Reisebericht von der ersten bis zur letzten Seite ein Vergnügen. Das ist nicht zuletzt dem Herausgeber zu verdanken. Aus dem ursprünglichen, weit umfangreicheren Konvolut hat Erwin Brunner zwar manch langwierige und wohl auch langweilige Passage gestrichen, sich im übrigen aber bemüht, alles weitestmöglich im Original zu belassen. Im Nachwort geht er näher auf die Erschließung der Dolomiten ein und rückt, was Gilbert und Churchill geleistet haben, in einen größeren Zusammenhang.
Die Liebe zum Detail bleibt jedoch erhalten. Schließlich sind es die Schrullen der Engländer, welche die Lektüre über andere, nicht nur zeitgenössische Reiseberichte erheben. Ein Hüttenabend ohne Tee (kein Lagreiner? kein Birra Forst?) war für die Gäste von der Insel nicht vorstellbar. Kräuter zum Aufkochen hatten sie gleich mitgebracht, die Einheimischen mussten nur Sorge tragen, dass das Wasser auch heiß genug war (was selten gelang). Selten wurde eine Tour ohne Führer absolviert, schon gar keine Flachetappe ohne Tragtier und niemals eine Steigung ohne Lakai, denn, so viel Klassenbewusstsein musste sein, weder einem englischen Herrn (wenn auch nicht von Adel, so doch großbürgerlicher Provenienz) noch seiner Frau konnte zugemutet werden, das Gepäck selber zu buckeln. Das Mitleid fürs schuftende Prekariat hielt sich in Grenzen. Eher wurde einem Vierbeiner die Last erlassen, nachdem ein Esel maulte, ein Maultier bockte oder ein Pferd wie auch immer geartete Anzeichen einer Überanstrengung von sich gab.
So blieben die Exkursionen entspannt, die Stimmung gelöst und der Gemütszustand heiter. Leider nicht das Wetter. Wenn nur der verdammte Regen nicht gewesen wäre! Es goss zwar insgesamt seltener als auf der Insel, dafür aber mit mehr Penetranz und weniger Abwehrmöglichkeiten. Schirme, auch das mussten die Touristen erfahren, sind im Gebirge selten eine gute Lösung, und ein Satz trockener Klamotten zum Wechseln war in Zeiten nicht wasserfester Rucksäcke auch keine wirkliche Alternative. Blieb die Vorfreude aufs Kaminfeuer … und dem heutigen Leser die Möglichkeit einer Reise in eine Zeit, in der Touristen keineswegs lästig und längst nicht alle Berghänge von Skifahrern umgepflügt waren. Insofern ist Gilbert und Churchills Bericht, ursprünglich geplant, um eine noch nicht entdeckte Region bekannt zu machen, auch ein Stück wiedergefundenes Paradies.
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