Carlo Levi: Die doppelte Nacht

Carlo Levis Diagnose für Deutschland

Carlo Levi (1902-1975) verfasste sein erstes Buch, Die Angst vor der Freiheit, zwischen September und Dezember 1939 in La Baule, Frankreich, wo er als Jude vor den faschistischen Verfolgungen Zuflucht gesucht hatte. In diesem philosophischen Werk, das 1946 nach dem Erfolg von Christus kam nur bis Eboli (1945) veröffentlicht wurde, thematisiert Levi die menschliche Freiheit. Er argumentiert, dass der Mensch autonom sein kann, sobald er die Vergöttlichung des Vaters (auf individueller Ebene) und des Staates (auf gesellschaftlicher Ebene) hinter sich gelassen hat. Dabei warnt er jedoch davor, in einen abstrakten Individualismus zu verfallen, der den Sinn für Gemeinschaft aufhebt und in dem der Staat nicht existiert, weil es an Leidenschaften («passioni») mangelt. Für Levi geht es nicht darum, frei von Leidenschaften zu sein, sondern vielmehr darum, in den Leidenschaften frei zu sein.

Kurz darauf ergänzte Levi seine Überlegungen, die in seinem 1958 veröffentlichten Reisebericht Die doppelte Nacht von grundlegender Bedeutung sein sollten. Abstrakter Individualismus, verstanden als Flucht vor der Leidenschaft, führt zu einer geistigen Dürre; die Angst vor der Leidenschaft, die Schrecken der Dunkelheit der Nacht, ist die grausame Religion des Staates. So wenig ein „faustischer Akt“ Leidenschaft sein kann, so wird der Ruf „Erwache!“ an ein Volk es von seinem trüben Schlaf und seinen angebeteten Monstern befreien.

Diese Reflexionen kündigten bereits die Anpassung von Goethes Faust für seinen „Tatsachenroman“ (S. 9) Die doppelte Nacht an, der auf 15 Artikeln basiert, die zwischen dem 1. Januar und dem 8. April 1959 in der Zeitung La Stampa veröffentlicht wurden. Der Titel dieses 1959 erschienenen Buches, von dem 2024 eine neue italienische Ausgabe (La doppia notte dei tigli, mit einer Einführung von M. Desiati und einem Nachwort von M. Acetoso, Turin, 2024) sowie eine deutsche Ausgabe (C. H. Beck) erscheinen werden, stellt die italienische Übersetzung eines Verses aus Goethes Meisterwerk dar: „durch den Linden Doppelnacht“ (Faust, Akt V, Szene III, Vers 11309). Mit diesem Ausdruck wollte der Schriftsteller aus Turin die Unentzifferbarkeit Deutschlands zum Ausdruck bringen, das er 1958 bereist hatte, also das Fehlen eines ersten Eindrucks oder eines Interpretationsschlüssels für dieses Land: „Vor meiner Abreise war ich neugierig, was mein allererster Eindruck von diesem unbekannten Flecken Erde sein würde. Denn es war bei mir auf beinahe all meinen Reisen so, dass sich das Gefühl für ein Land, das dann später um zahllose Dimensionen und Bestimmungen erweitert werden sollte, in mir, frei von jeglicher Voreingenommenheit oder jeglichem Vorurteil und sogar frei vom Gewicht jeglichen historischen und literarischen Wissens, durch ein erstes Bild einstellte (eine Vorstellung oder Eingebung, ein vages Gefühl oder einen Eindruck), was man wie bei einer Liebesbegegnung als „Kristallisation“ beschreiben könnte […]. Was würde mir Deutschland bei meiner Ankunft (und sei es nur durch die Geste eines Passanten, eine Stimme, einen Blick) sagen? So ein erstes Bild hat es, vielleicht weil ich darauf gewartet habe, nicht gegeben, oder es war nicht deutlich genug“ (S. 15-16).

Levi kam im Dezember 1958 nach München und verbrachte die Abende in verschiedenen Lokalen und Bierstuben, wo er Menschen traf, die noch immer unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs litten. Anschliessend besuchte er die Lager in Dachau, die damals von Flüchtlingen bewohnt waren. Nachdem er Augsburg erreicht hatte, besuchte er zuerst Ulm, dann Stuttgart und schliesslich Berlin. Er betrachtete die deutschen Städte mit den Augen eines Dichters und eines Bauern. Denn „die offensichtlichen Dinge sind stets am unsichtbarsten: Nur Dichter und Bauern können sie sehen“ (S. 77). Levi betrachtete Deutschland jedoch auch aus der Perspektive eines Malers, insbesondere Ost- und Westberlin (die Berliner Mauer, 1961–1989, war noch nicht errichtet). Für ihn verbarg sich Deutschland – das Zentrum Europas – vor allem vor sich selbst; es war ambivalent und widersprüchlich. Gerade deshalb fiel es dem Reisenden Levi schwer, den Sinn dieses grossen Landes intuitiv zu erfassen. In Christus kam nur bis Eboli beschrieb er die Region Lukanien als eine Gegend, die ebenfalls voller Widersprüche ist. Doch während dort die sozio-kulturellen Ambivalenzen durch die „Gleichzeitigkeit der Zeiten“ harmonisiert waren, blieben die Widersprüche in Deutschland bestehen. Für Levi waren sie auf eine tiefe Krise zurückzuführen, auf die Geschichte einer Nation, die im Unbewussten gespalten war. Um es mit den Begriffen aus Die Angst vor der Freiheit zu sagen: In Deutschland gab es keine Differenzierung, der Mensch war noch nicht differenziert und emanzipiert. Es herrschte das innere „Zerbrechen der Einheit des Menschen“ (S. 10), gespalten im Unbewussten. Aus diesem Grund sprach Levi von diesem für ihn unbekannten Land, das über ein Jahrzehnt lang von Hitlers „Paranoia“ regiert worden war, in psychologischen und psychoanalytischen Begriffen und betonte dabei das „erste Stadium der Kindheit“, die „Schizophrenie“ sowie das „Liebesvakuum“ (S. 14-15). Wie er bereits in seinem 1939 verfassten Buch schrieb, müsse Deutschland erwachen und vom zerstörerischen und trennenden Schlaf zur sozialen und menschlichen Wachsamkeit übergehen. Doch während seiner Reise 1958 stellte Levi fest, dass der historische, politische und soziologische Schlaf Deutschlands weiterhin anhielt, dass die höllische doppelte Nacht der Linden fortdauerte.

Es ist bedauerlich, dass weder in der Einleitung von Desiati noch im Nachwort von Acetoso auf die verschiedenen deutschen Studien zu diesem Buch von Carlo Levi Bezug genommen wird. Bernd Roecks Nachwort ist hingegen ausführlicher. Es ist sogar das Titelbild der ersten Ausgabe dieses Buches zu bewundern. Nun wurde Levi folgender Vorwurf gemacht: Levi, der ausgebildete Arzt, betrachtet Deutschland wie einen Patienten. Als Diagnose stellt er Schizophrenie fest. Auch andere Gelehrte haben die Grenzen dieses Buches von Levi kritisiert, da der Autor den Fehler eher im untersuchten Objekt (Deutschland) als in seiner eigenen interpretativen Sichtweise sucht. Meiner Meinung nach wäre Levi selbst der Erste gewesen, der der Idee zugestimmt hätte, ihn als einen Arzt zu sehen, der einen Patienten untersucht. Tatsächlich können auch andere Titel von Levis Büchern als Antwort auf eine Diagnose des ‘Arztes’ Levi betrachtet werden (der, wie bekannt, in Turin Medizin studiert hatte). Und 1962, als er über sein Buch Die Angst vor der Freiheit sprach, gestand Levi, dass dieser Titel eine Diagnose und eine Antwort auf die Probleme der sogenannten Massenkultur sei. Die Diagnose von Christus kam nur bis Eboli beispielsweise sollte für den Süden Italiens ein Aufruf sein, sich der Geschichte zu öffnen, die uralte Resignation zu überwinden und zur sozialen, politischen und wirtschaftlichen Vereinigung Italiens zu gelangen. Mit der Diagnose Die doppelte Nacht forderte Levi die Deutschen auf, sich gründlich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, um aus dem uralten Schlaf und der anhaltenden Blindheit herauszukommen (am Ende wurde Faust selbst blind), um nicht länger „ein Land, das die Augen verschliesst, beharrlich verschliesst“ (S. 19) zu bleiben. Natürlich verweist das Adverb „beharrlich“ in der Wendung „beharrlich verschliesst“ auf das Adjektiv „doppelt“ im goetheschen Ausdruck „doppelte Nacht der Linden“.

Es ist zudem bemerkenswert, dass ‘Diagnose’ etymologisch bedeutet, den Zustand eines Patienten durch genaue Beobachtung der begleitenden Symptome und Erscheinungen zu erkennen. Mit seinen Büchern wollte Levi jeweils eine bestimmte Realität mit Leidenschaft beobachten, um ihren tatsächlichen Zustand zu erkennen. Das schliesst nicht aus, dass die Diagnose, wie seine Kritiker sagen könnten, nicht immer korrekt war. Mir scheint es jedoch geeigneter, zu betonen, dass Levi immer das genaue Beobachten des jeweiligen Landes oder der Region wichtig war. Und „genau beobachten“ ist die eigentliche Bedeutung des Wortes „spähen“: Levi „spähte“ (d. h., er beobachtete genau) das von ihm bereiste Land, aber nicht heimlich, sondern öffentlich, um dann eine Diagnose zu formulieren, die gleichzeitig eine Antwort darstellt. Mit dem Ausdruck „in den Leidenschaften freier Späher“ (oder „Spion“) könnte Levis Haltung als Dichter und Arzt, d. h. als genauer Beobachter und Diagnostiker der menschlichen Wirklichkeit, angegeben werden.

Der Turiner Schriftsteller Carlo Levi beobachtete genau die Länder und Regionen, die er in seinen Büchern beschrieb (Sizilien, Sardinien, die Sowjetunion, Indien, China). Mit seinem ersten Buch, Die Angst vor der Freiheit, versuchte er, das Übel zu „diagnostizieren“, das Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs heimsuchte, und bot gleichzeitig eine mutige Antwort und eine wirksame Abhilfe an. Später stellte er in Die doppelte Nacht fest, dass sich Deutschland noch nicht von dem nationalsozialistischen Trauma erholt hatte: Diese grosse europäische Macht schlief weiterhin und hielt die Augen geschlossen.

Nicht nur Faust wurde am Ende blind; 1973 traf dieselbe Blindheit auch Carlo Levi – und seinen Freund Jean-Paul Sartre. Levi überwand seine eigene Blindheit, indem er mindestens 145 Zeichnungen anfertigte, sein letztes Buch Quaderno a cancelli (Gitterheft) schrieb und sogar mehrere Gemälde malte (Roeck verweist auf Levis letztes Buch, jedoch ohne dessen Zustand ausführlich zu schildern). Aber auch in diesem Fall gab er nicht auf und blieb seinem Engagement als „Späher“ (oder „Spion“), also als genauer und freier Beobachter der menschlichen Realität, treu – und erkannte die Gefährlichkeit der „verdorbenen Erwachsenen“.

Die doppelte Nacht
Martin Hallmannsecker (Übersetzung)
Die doppelte Nacht
Eine Deutschlandreise im Jahr 1958
176 Seiten, gebunden
Originalsprache: Italienisch
C.H.Beck 2024
EAN 978-3406823695

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