Im Nahen Osten drängt die Zeit
Rainer Hermann, ein ausgewiesener Kenner des Nahen Ostens, zeichnet in seinem neuen Buch ein düsteres Bild der Situation in Nordafrika und im Nahen Osten: fast ausnahmslos gescheiterte Staaten oder solche, die am Rande des Abgrunds stehen und in denen die Menschen eine noch schlechtere Zukunft erwarten als die Gegenwart, in der sie leben. Gab der "Arabische Frühling" im Jahr 2011 noch Anlass zur Hoffnung, herrscht heute die Verzweiflung vor. Verbreitete Korruption, skrupellose, repressive Regime und gierige Eliten, die mithilfe bewaffneter Trupps Terror verbreiten und ihr Land hemmungslos ausplündern, erscheinen als Konstante der gesamten Region. Einzige Hoffnungsträger sind die jungen Menschen, die auch 2019 und 2020 wieder auf die Straße gingen, die aus dem früheren Scheitern gelernt haben und realistischer geworden sind, während die Regime ihren alten Rezepten treu bleiben und weiter versagen.
Eine vage Perspektive sieht der Autor für Saudi Arabien, falls das Herrscherhaus nicht an der Rücksichtslosigkeit des Kronprinzen Muhammad Bin Salman zerbricht und der "überfällige Umbau von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft" (S. 154) rechtzeitig gelingt, für Tunesien – auch wenn das "tunesische Wunder" an einem seidenen Faden hängt –, und für Algerien, da die politischen Akteure "weiterhin der Konsens eint, dem friedlichen Wandel eine Chance zu geben." (S. 199) "Bescheidene Anfangserfolge" (S. 248) erkennt er im Sudan. In wirtschaftlicher Hinsicht als "Erfolgsgeschichte" (S. 154) bezeichnet er den kosmopolitischen Stadtstaat Dubai. Völlig verzweifelt hingegen ist die Situation in der Einflusszone Irans, an dem der Autor kein gutes Haar lässt und dessen Streben zerstörerisch ist, also im Irak, wo Araber und Perser seit Jahrhunderten aufeinander prallen, im Libanon und in Syrien, weil Iran nicht an funktionierenden Staaten interessiert ist, sondern "ihm ein gescheitertes Land als Plattform für sein aggressives Machtstreben von größerem Nutzen ist" (S. 202), genau wie es im Libanon den letzten Resten von Staatlichkeit den Todesstoß versetzte. Das zerstörte Syrien nutzt Iran als Aufmarschgebiet gegen Israel.
Scharf kritisiert Hermann die westlichen Regierungen, die nicht die Protestierenden unterstützen, sondern im Gegenteil die korrupten Machthaber hofieren. Der Westen darf nicht zulassen, dass die skrupellosen Regime Treffen mit europäischen Staats- und Regierungschefs für ihre Zwecke instrumentalisieren und ihrer Herrschaft damit den Anstrich von Legitimität geben. Der politische Dialog müsse "an die gesellschaftliche Verantwortung der Mächtigen appellieren und sie auf das Gemeinwohl verpflichten." (S. 256) Der Autor entwirft hierzu ein Fünf-Punkte-Programm, zu dessen Realisierung ein weiter Weg zurückzulegen und ein langer Atem erforderlich ist.
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