Nichts spricht gegen viel höhere Eigenkapitalquoten
Was hat ein Märchen mit der Finanzkrise und der Bankenwelt gemeinsam? "In Hans Christian Andersens berühmtem Märchen »Des Kaisers neue Kleider« bieten zwei vorgebliche Schneider dem Kaiser an, ihm prachtvolle neue Gewänder zu schneiden, die die besondere Eigenschaft haben sollen, dass sie für dumme oder inkompetente Menschen unsichtbar sind. Der Kaiser bestellt daraufhin eine komplette Ausstattung. Als er seine Minister schickt, damit die den »Schneidern« auf die Finger schauen, können diese kein einziges Kleidungsstück entdecken. Aus Sorge, sie könnten als dumm oder inkompetent gelten, verschweigen die Minister dem Kaiser, dass sie keine Kleider gesehen haben, und preisen stattdessen die Pracht und Herrlichkeit der unsichtbaren und inexistenten Stoffe, aus denen die kaiserlichen Gewänder angeblich genäht sind.
Der Kaiser selbst kann seine neue Garderobe auch nicht sehen. Aber da auch er nicht als dumm oder inkompetent gelten will, lobt er die nicht vorhandenen Gewänder über den grünen Klee. Als er sich darin seinen Untertanen präsentiert, bewundern alle seine Kleidung, obwohl sie nichts sehen können. Erst als ein kleines Kind ausruft: »Aber er hat ja gar nichts an!«, bemerken es die Menschen und trauen sich einzugestehen, dass der Kaiser in Wirklichkeit nackt ist." (S. 22)
Seit Jahren dominieren Finanzkrise und marode Banken die Schlagzeilen und dies wird sich auch 2014 fortsetzen. Denn Finanzkonzerne sind oft krisenanfällig, nicht weil sie es müssen, sondern weil sie es sein wollen, um höhere Gewinne zu erzielen und Spitzengehälter bzw. exorbitante Bonuszahlungen zu rechtfertigen. Entgegen aller Beschwichtigungen sowie europäischen und internationalen Reformansätzen hat sich daran kaum etwas geändert und das Finanzsystem ist heute genauso fragil wie 2008. "Im Bewusstsein der Wut, die die Finanzkrise von 2007 bis 2009 und der massive Einsatz von Steuergeldern für Bankenrettungen ausgelöst hatte, hielten sich die Banken im ersten Jahr nach der Krise in Deckung. … Seitdem meldet sich die Bankenlobby jedoch wieder offen zu Wort." (S. 21) Nach Meinung der Autoren haben viele Einwände führender Manager und Experten der Bankenwelt gegen eine strikte Neuregulierung und insbesondere gegen eine höhere Eigenkapitalquote ebenso viel Substanz wie die neuen Kleider des Kaisers. Dieses Nichts kann auch nicht durch gebetsmühlenartiges Wiederholen fehlerhafter Aussagen und unzulässiger Argumente der Bankenlobby zu einem neuen Prachtgewand gewoben werden.
Es ist das Hauptanliegen der beiden anerkannten Mainstream-Ökonomen und ausgewiesenen Finanzexperten, Anat Admati, Finanzwissenschaftlerin an der Graduate School of Business in Stanford und Mitglied des Systemic Resolution Committee der Einlagensicherungsbehörde der USA, und Martin Hellwig, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn und (stellvertretender) Vorsitzender des beratenden Ausschusses des European Systemic Risk Boards, das märchenhaft unverständliche Bankervokabular mit einfachen Worten und bestechender Logik und gestützt auf ein empirisches Wissen zu entzaubern und die Herren des Geldes zu entmystifizieren. In Andersens Märchen auf das der Titel des Buches anspielt, ist der Kaiser nackt, in der Realität sind es die Banken. Zwar müssen nach Basel III Banken bis zum 1. Januar 2019 eine Eigenkapitalquote von mindestens 7% ihrer risikogewichteten Aktiva erreichen, was aber de facto bedeutet, dass sie sich bis zu 97% fremdfinanzieren können, was insbesondere die europäischen Banken auch tatsächlich bereits tun. Admati und Hellwig analysieren die Hintergründe einer so geringen Eigenkapitalquote der Banken und zeigen auf, dass in solchen Fällen schon kleine Wertschwankungen hohe Gewinne, aber auch existenzgefährdende Verluste mit der Folge erneuter staatlicher Rettungsinterventionen nach sich ziehen können.
In den zwei Teilen und 13 Kapiteln des Buches begnügen sich die Autoren nicht nur mit der Aufdeckung der Schwächen des Finanzsystems, sondern kommen zu überzeugenden Vorschlägen, wie man dieses sicherer machen könnte. Die mutige und über die Mehrheitsmeinung weit hinausgehende zentrale Forderung bezieht sich auf eine echte Eigenkapitalquote von 30 Prozent. "Für den Fall, dass Verluste das Eigenkapital auf einen Wert sinken lassen, der unter 30 Prozent, aber über 20 Prozent ihrer Vermögenswerte liegt, wäre vorzusehen, dass die betreffende Bank ihre Gewinne nicht in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen ausschüttet, sondern dass sie die Gewinne einbehält und reinvestiert, um ihr Eigenkapital wieder zu erhöhen. Auch könnte vorgesehen werden, dass bestimmte Zahlungen, zum Beispiel Boni für Bankmanager, in Form von neuen Aktien und nicht mit Bargeld geleistet werden. Sinkt das Eigenkapital allerdings unter 20 Prozent der Vermögenswerte, dann sollten die Banken gezwungen werden, ihr Eigenkapital sofort wieder zu erhöhen - wenn nötig, indem sie zusätzliche Aktien verkaufen." (S. 293)
Schonungslos, gut verständlich und zupackend setzen sich die beiden Verfasser auch mit der von der Bankenlobby vertretenen Argumentation auseinander, dass mehr Eigenkapital für die Banken zwangsläufig höhere Kreditzinsen und weniger Kredite für die Realwirtschaft bedeutet und machen deutlich, dass ein solcher Zielkonflikt zwischen Wachstum und Stabilität schlichtweg nicht besteht. Besondere Aufmerksamkeit wird auch der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen der Politik und der Bankenwelt ("Regulatory Capture - die Vereinnahmung der Regulierer durch die Regulierten") gewidmet. Die gelungene politökonomische Analyse zeigt hierzu interessante Hintergründe auf und führt zur Schlussfolgerung, dass das entscheidende Element der Lösung der Probleme des Finanzsystems im politischen Willen liegt. Hierzu äußern sich die Autoren im letzten Absatz des Buches allerdings wenig optimistisch: "Wir können ein Finanzsystem haben, das der Wirtschaft wesentlich besser dient als das System, das wir haben - und das, ohne dass wir ein Opfer dafür erbringen müssen. Das setzt jedoch voraus, dass sich Politiker und Behörden auf das öffentliche Interesse konzentrieren und die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Das entscheidende Element, das nach wie vor fehlt, ist der politische Wille". (S. 354)
Fazit: Eine wichtige Lektüre für alle, welche wirklich verstehen wollen, warum und wie das Bankensystem reformiert werden muss. Es bleibt zu hoffen, dass eine zukünftig kritischere Gesellschaft die Nacktheit der Banken erkennen und anprangern wird, so dass sich ein entsprechender politischer Gestaltungswille formulieren und durchsetzen kann.
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