Abschied von sich selbst
Erkundigt man sich nach Meinungen zu Arnon Grünbergs "Der Vogel ist krank", wird eines klar: Kalt lässt das Buch niemanden. Von "abstossend" bis "deprimierend" reichen die Adjektive. Einige halten nicht durch und legen das Buch beiseite. Die Bezeichnungen sind zwar nicht unzutreffend, aber doch nur Teilaspekte.
Christian Beck ist von Beruf Übersetzer von Gebrauchsanweisungen, früher war er Schriftsteller, lebt seit vielen Jahren mit "Vogel", sein liebevoller Kosename für seine Frau, die er wohlgemerkt nicht geheiratet hat, zusammen. Beck hat gerne einen wohlgeordneten Alltag, unkomplizierte Lebenssituationen und ist kein Freund von Überraschungen, denn er hat sich sein Leben ganz gut eingerichtet. Seinen Sehnsüchten hat er vor zehn Jahren abgeschworen, als seine Jagd nach dem eigenen Glück eskalierte und in eine Sackgasse mündete. Vor zehn Jahren lebte er noch zusammen mit Vogel in Eilat, heute in Göttingen. Die Kunst, sein Arrangement mit sich und seiner Umwelt in Balance zu halten, hat er über die Jahre verfeinert. So gerät sein Leben trotz der anstehenden Herausforderungen nicht aus den Fugen: Der Vogel hat Krebs. Zwei Dinge will seine Frau angesichts des bevorstehenden Todes noch machen. Erstens einen Asylbewerber aus Algerien heiraten und zweitens die Herstellung von Ziegenkäse erlernen. Die Scheinheirat strapaziert Becks Toleranz arg, doch nur für einen Moment. Den Wunsch einer Schwerkranken hat man zu erfüllen, was er schliesslich anstandslos, sogar mit etwas Hingabe, macht. Dass der Asylbewerber auch noch bei ihnen wohnt, war von Beck eigentlich nicht geplant, es ergab sich einfach. Im Endeffekt trägt der Asylbewerber Becks Unterhosen und schläft mit Vogel in seinem Bett. Mit der Zeit erweist sich der Asylbewerber gar als praktisch, kann er doch den Vogel tragen, wenn es nötig ist. Der Kurzurlaub zu dritt in einem heruntergekommenen Bauernhof, wo zwei Schwestern Kurse in der Herstellung von Ziegenkäse erteilen, ist dann nur noch eine Selbstverständlichkeit.
Als dann seine Frau definitiv im Sterben liegt, werden die beiden zu einem richtigen Team. Auch ihr Tod bringt Beck nicht ins Wanken. Den Zugang zu sich selbst hat er definitiv vor zehn Jahren verschlossen. Was folgt, ist ein Sich-immer-mehr-Gehenlassen und ein noch ausgeprägterer Fatalismus. Das Leben ist definitiv sinnlos, hat doch Beck eigentlich vor zehn Jahren beschlossen, seine Frau glücklich zu machen. Seinen letzten grossen Abwehrkampf gegen die Gesellschaft, den er antritt, als ihn dann auch noch seine unschöne und peinliche Vergangenheit einholt, die so gar nicht zu dem heute so harmlosen und unauffälligen Beck passt, kann er nur verlieren.
Zugegeben, der Inhalt ist nicht gerade ein Aufsteller. Arnon Grünberg liefert aber mehr Stoff zum Lachen als zum Heulen oder Sichekeln. Selten liest man so gelungene Situationskomik und einen solch feinen Sprachwitz. Christian Becks Abschied von seiner Frau ist wohl realitätsnaher und damit berührender als manch ein pathetisch überhöhter Idealtod in anderen Büchern. Grünberg schreibt keine Alles-ist-schlecht-Literatur, wie man vielleicht aufgrund des Themas und der pessimistisch-fatalistischen Grundeinstellung seines Protagonisten vermuten könnte. Grünberg kann einfach über die Welt und ziemlich sicher über sich selbst lachen. Einen Blick für das Groteske des menschlichen Daseins hat er auf jeden Fall. Er bringt es mit Humor zu Papier.

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