Mathias Binswanger: Der Wachstumszwang

Die Ökonomie der Bedürfnisweckung

"Seit Beginn der ersten industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts in England ist Wirtschaftswachstum nach und nach in fast allen Ländern dieser Erde zu einem Dauerzustand geworden. Wachstum gilt als Anzeichen einer funktionierenden Wirtschaft, während ein Ausbleiben von Wachstum als pathologische Störung empfunden wird. Schon ein Jahr ohne Wachstum führt zu großer Nervosität in Politik und Wirtschaft, und man versucht alle Hebel in Gang zu setzen, um wieder auf den Wachstumspfad zu gelangen. Und wächst eine Wirtschaft gar ein paar Jahre nicht, wie das in Griechenland von 2008 bis 2013 der Fall war, dann wird daraus eine nationale Katastrophe. Doch warum sind heutige Wirtschaften dermaßen auf Wachstum fixiert?"

Dies ist die zentrale Frage, die Mathias Binswanger bereits im ersten Abschnitt der Einleitung aufwirft und mit welcher er sich in seinem neuesten Buch eingehend befasst. Der Verfasser ist Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Uni St. Gallen. Binswanger ist nicht nur Autor von zahlreichen erfolgreichen Büchern und bedeutenden Beiträgen in einschlägigen Fachzeitschriften sowie Mitglied wichtiger Gremien in Wirtschaft und Wissenschaft, sondern verfügt auch über internationale Erfahrungen im Rahmen von Forschungsaufenthalten und Gastprofessuren an renommierten ausländischen Universitäten. Laut dem Ökonomen-Ranking der NZZ gilt er als einer der drei einflussreichsten Ökonomen der Schweiz.

"Vom Heilsversprechen zur Zwangshandlung" charakterisiert Binswanger die Entwicklung des Wirtschaftswachstums während der letzten zweihundert Jahre. Dabei ist Wachstum für den Autor ambivalent, er versteht sein Buch sogar ausdrücklich gleichermaßen als wachstumsfreundlich und wachstumskritisch. Es geht ihm weder um eine pauschale Wachstumskritik und ausschließlich pessimistische Sichtweise der kapitalistischen Wirtschaft, noch um eine Verharmlosung der mit dem Wachstum verbundenen Gefahren. "Das stetige Wirtschaftswachstum hat in vielen Ländern einen materiellen Wohlstand geschaffen, von dem frühere Generationen nur träumen konnten." Auch heute noch leistet es einen positiven Beitrag in zahlreichen Ländern. Doch wird es in den wohlhabenden Ländern, etwa in Westeuropa, Nordamerika und Japan immer fraglicher, ob das Wachstum noch einen weiteren Beitrag zum Wohlbefinden der Menschen leistet. Viele Untersuchungen stellen fest, dass die Menschen in diesen reifen Volkswirtschaften mit noch mehr Wohlstand nicht zufriedener werden, sondern immer mehr gestresst sind, die Umwelt zunehmend belastet wird, die Biodiversität abnimmt, etc. Die negativen Aspekte des Wachstums nehmen immer weiter und stärker zu und es scheint, dass wir in eine Art Teufelskreis geraten sind und "aus einer Ökonomie der Bedürfnisdeckung ist eine Ökonomie der Bedürfnisweckung geworden".

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil widmet sich dem Phänomen des Wachstumszwangs und seinen Auswirkungen auf die Wirtschaft. Nach Ansicht des Verfassers sieht die traditionelle Ökonomie diesen Zwang nicht, d. h. für diese ist Wachstum bedürfnisgetrieben und sie ist der Auffassung, dass wenn die Menschen irgendwann einmal genug haben, könne das Wachstum aufhören. Hingegen zeigt Binswanger auf, dass eine kapitalistische Wirtschaft nicht auf einem bestimmten Niveau bleiben kann, sondern im Grunde genommen nur die Varianten Wachstum oder Schrumpfung kennt. Entscheidend für das Wachstum ist die Rolle der Unternehmen, welche mit ihrer ständigen Suche nach neuen Gewinnmöglichkeiten und der Maximierung des Shareholder Values die Wirtschaft vorantreiben. Deshalb wird sowohl die Arbeit der Unternehmen bzw. von Unternehmern und Managern näher beleuchtet, als auch systematisch der Frage nachgegangen, weshalb die traditionelle Wachstumstheorie den Wachstumszwang nicht erkennen kann. Im Mittelpunkt der Analyse steht somit der Zusammenhang von Geldschöpfung, Investitionen, Wachstum und Gewinnen.

Der zweite Teil des Buches befasst sich im Wesentlichen mit der Zukunft des Wachstums der Wirtschaft, die insbesondere durch den sich abzeichnenden digitalen Wandel und durch die Sättigung vieler Märkte stark geprägt ist. Binswanger zeigt u. a. auf, dass traditionelle Arbeitsplätze durch den mit der Transformation verbundenen technischen Fortschritt vernichtet werden, gleichzeitig geht mit der steigenden Komplexität der Wirtschaft ein Trend zu mehr Bürokratie einher, was eine Verschiebung der Beschäftigung von der Produktion in die Organisation des BIP bewirken wird. Für den Autor ist nach wie vor kein Ende des Wachstums in Sicht. Er konstatiert, dass der Wachstumsdrang bis heute, allen früheren Prognosen zum Trotz, die vermeintlichen Wachstumsbarrieren überwunden hat und, mangels Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung, vermutlich noch lange weitergehen werde. Es spricht zwar vieles dafür, dass es noch hohes Potenzial zur Entkopplung des Wirtschaftswachstums von Ressourcenverbrauch und Schadstoffemissionen (insbesondere CO2) gibt und dass Wachstum nachhaltiger, grüner und sozialer werden wird; dennoch bleiben nach wie vor nicht auflösbare Widersprüche zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit bestehen.

Binswanger will es aber nicht bei der ökonomischen Analyse belassen. Er zeigt auch konkrete Möglichkeiten auf, wie man das rein kapitalistische System umbauen und den Wachstumsdrang mildern könnte. In diesem Zusammenhang befasst er sich auch mit möglichen Reformvorschläge für die an der Börse kotierten Aktiengesellschaften und mit alternativen Rechtsformen, etwa Genossenschaften und Stiftungsunternehmen. Auch aktuelle Fragestellungen in Verbindung eines besseren Wachstums, etwa zur Einkommensungleichheit und zum bedingungslosen Grundeinkommen, werden aufgegriffen.

Das Hauptanliegen des Autors besteht offensichtlich darin, die Dynamik des Wirtschaftssystems, in dem wir leben, offenzulegen. Binswanger besticht auch in diesem Buch durch seine messerscharfen Analysen und macht abschließend deutlich: "Wachstum ist in einer kapitalistischen Wirtschaft zwar eine Notwendigkeit, aber es muss nicht zwingend ein maximales Wachstum sein."

Der Wachstumszwang
Der Wachstumszwang
Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben
310 Seiten, gebunden
Wiley-VCH 2019
EAN 978-3527509751

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