Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung

Betrachtungen eines zornigen Germanisten

Dirk Oschmann, der die Professur für Neuere deutsche Literatur in Leipzig innehat, beobachtet deutsche Lebenswelten und -wirklichkeiten. Zugleich beschreibt und kritisiert er eine banale, aber herrschende westdeutsche Begriffsfigur, ein konstruktivistisches Gespinst. Aus der ehemaligen DDR wurde – insbesondere im Sprachgebrauch des medialen Mainstreams, im postmodernen Bildungsbürgertum und in der westdeutschen Provinzpolitik heute – "der Osten".

Oschmann erzählt Lebensgeschichtliches, aus Kindheit und Jugend, memoriert Erfahrungen aus dem Leben in der DDR. Als er 22 Jahre alt war, fiel die Mauer. Der Germanist analysiert rückblickend die von "westdeutschen Beamten geführte »Kolonisten-Bewegung«", mit Blick auf die ebenso anmaßenden wie geringschätzigen Äußerungen von weithin bekannten konservativen Intellektuellen der alten Bundesrepublik wie Arnulf Baring und Wolf Jobst Siedler. Es gab damals – vielleicht auch heute noch, wer weiß – eine "natürliche Ordnung der Dinge", so Oschmann, und "aus dieser Perspektive ist der Osten nur laut, dunkel, primitiv, anders, der Westen hingegen wohlklingend, hell, kultiviert und selbstidentisch". Die "abfälligen Äußerungen" sind mitnichten Geschichte geworden. Der Autor unterscheidet zwar die private von der öffentlichen Ebene, auf der erstgenannten spiele die Differenz zwischen Westen und Osten heute keine Rolle mehr, operiert dann aber mit einem entrückt anmutenden Adjektiv, wenn er schreibt, dass die deutsche Teilung "allgemein bewusstseinsgeschichtlich" fortbestehe: "Dabei begreift sich der Westen stets als Norm und sieht den Osten nur als Abweichung, als Abnormalität, Abnormität.

Der Osten erscheint als Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet und das er nicht wieder los wird.

Der Osten erscheint als Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet und das er nicht wieder loswird. Darum stört es den westdeutschen Wohlfühl- und Diskurskonsens in der Regel besonders, wenn das Geschwür sich regt, weil jemand aus dem »Osten« spricht." Die metaphorisch-plakative Sprache ist Geschmackssache, ein Mangel an Unterscheidung könnte hier auch möglicherweise bestehen. Doch wie ließe sich eine behaupteter "westdeutscher Wohlfühl- und Diskurskonsens" empirisch feststellen, sezieren und analysieren? Warum orientiert sich Oschmann leidenschaftlich an Meinungen aus bestimmten Leitmedien – vom Deutschlandfunk bis zur FAZ –, verzichtet aber auf eine kritische Analyse der ökonomischen Bedingungen, auf denen die Gesellschaft beruht? So greift er am Beispiel einer Vortragsreihe das Beispiel einer "Ost-Identität" auf, die für die "wachsende gesellschaftliche Spaltung mitverantwortlich" sein könnte. Es bleibt zu erwägen, ob der Diskurs über Identitäten, der zugegebenermaßen derzeit verbreitet ist – man denke nur an die weitläufige Genderdebatte –, nicht voraussetzt, dass die materiellen Grundlagen bestehen, sich mit derlei sekundären Themen überhaupt zu befassen und diese dann als Problem zu markieren. Wer über Themen wie Identität nachdenkt und die Diskurse hierzu als wichtig setzt – und Dirk Oschmann legt überzeugend dar, dass dieser Diskursraum von bestimmten Interessengruppen beherrscht ist –, der muss über Lohnarbeit nicht nachdenken und kann seinen fluiden Gedanken freien Lauf lassen.

Eine Reihe von Bekenntnissen fügt der Germanist in seine Betrachtungen ein, etwa dass er seit 1990 die Grünen wähle und jeden Morgen als Erstes SPIEGEL ONLINE lese – und manche Leser fragen sich vielleicht: Er hat das Recht dazu, zweifelsohne, aber muss ich, als Leser, das wissen? Berechtigterweise beklagt Oschmann den "strukturellen Nepotismus" an Universitäten bei Stellenbesetzungsverfahren und weist darauf hin, dass auch 30 Jahre nach dem Mauerfall in geisteswissenschaftlichen Fächern "Professuren kaum mit Wissenschaftlern ostdeutscher Herkunft besetzt werden", auch weil nur wenige überhaupt die Chance hatten, sich dafür zu qualifizieren. Bis heute werde der "Nachwuchs aus eigenen Netzwerken" rekrutiert, schreibt Oschmann, und so begründet die Kritik an Stellenbesetzungsverfahren ist, so verkennt er doch zugleich, dass die "Berufungspolitik" an Universitäten, zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften, vielerorts schon vor 1990 und auch danach eigenen Regeln gehorchte, bei denen die tatsächliche Qualifikation der Stellenbewerber nicht mehr als ein Kriterium unter vielen war.

Oschmann stellt fest, dass es in Deutschland eine "freie Presse" gebe, die aber nicht als "wirkliches Korrektiv" tauge und "oft unwirksam" bleibe. Er lobt eine Reihe von Medien, beklagt aber dann, dass diese aber trotzdem oft "in tendenziöser Absicht" agierten und ihre Macht missbrauchten, etwa im "westdeutsch ausgerichteten Mediendiskurs über den Osten". Der Osten komme lediglich als "Aussageobjekt", nicht als "Aussagesubjekt" vor. Bezogen auf einen bekannten Radiosender, der Weimar – in Thüringen gelegen – nach Sachsen transferierte, schreibt Oschmann sodann: "Holy Shit! Wenn selbst ein Flaggschiff wie der Deutschlandfunk, der zum Besten gehört, was der Journalismus überhaupt zu bieten hat, hier versagt, muss man alle Hoffnung fahren lassen. Denn das ist ja ein Paradebeispiel für einen freudschen Versprecher, symptomatisch und verräterisch zugleich. Er illustriert aufs Schönste, dass und wie der gesamte Osten generell für Sachsen gehalten wird, wo obendrein alle Sächsisch sprechen." Dirk Oschmann wählt gern eine plastische, markante Sprache, reagiert dann aber überreizt, wenn ein sicherlich bemühter Journalist in einem regional bekannten westdeutschen Medium – oder ist der Begriff "Flaggschiff" hier ironisch gemeint? – Weimar nicht dem richtigen Bundesland zuordnen kann.

Bemerkenswert ist, dass er "bürokratisch abverlangte Lippenbekenntnisse" – heute zur Diversität, die er grundsätzlich als wertvoll anerkennt – als ein "hohles Sprachspiel mit bekannten Regeln" kennzeichnet und mit historischen Formen der "Überprüfung auf ideologische Zuverlässigkeit" vergleicht: "Es ist nichts weiter als ein leeres Ritual moralischer Selbstermächtigung, mit dem sich die jeweils eingesetzte Kommission ein gutes Gefühl gibt und mit dem sich die Institutionen den Anschein ethischer Avanciertheit, Reflektiertheit und Höherwertigkeit zu geben bemühen."

"Die Künstler kommen aus dem Osten, die Kritiker mit ihrer medialen Schlagkraft aus dem Westen. Und wieder geht es darum, Künstler zu diskreditieren, zu beschädigen und auszubooten."

Im Ganzen hat Dirk Oschmann ein provokatives Buch verfasst, hellsichtig etwa in Fragen der Kunst, wenn er das westliche Ressentiment und die Diffamierung und Stigmatisierung der Kunstwerke von Neo Rauch als rechtskonservativ markiert und als einen Diskurs bestimmt, in dem eine "asymmetrische Macht- und Kommunikationsstruktur am Werk" sei: "Die Künstler kommen aus dem Osten, die Kritiker mit ihrer medialen Schlagkraft aus dem Westen. Und wieder geht es darum, Künstler zu diskreditieren, zu beschädigen und auszubooten." Lobend erwähnt Oschmann dann den bekannten Kunstkritiker Eduard Beaucamp, der sich als "profunder Kenner der DDR-Kunstszene" gegen die "Fortsetzung dieses Kulturkampfs" zu Wort gemeldet hat – aber sonst?

Dirk Oschmanns Buch "Der Osten" ist zum deutschen Bestseller avanciert – im Westen und im Osten, im Norden und im Süden und sicher auch in Deutschlands Mitte. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, weil so die Auseinandersetzung um einen konfliktfreudigen Autor und dessen Sichtweisen belebt wird. Manches in dem Buch wird zu flott erzählt, etwa dass die DDR "eine der höchsten Selbstmordraten weltweit" hatte. Lässt sich das zweifelsfrei nachweisen? Darauf darf – auch unter Verweis auf die Studie und das lesenswerte Interview mit der Soziologin Ellen von den Driesch – schlicht erwidert werden, dass etwa in der Bundesrepublik seltener Obduktionen stattfanden, die Umstände von Todesfällen weniger systematisch aufgearbeitet und nicht zentral erfasst wurden. Zudem durften bis vor einigen Jahren noch Selbstmörder auf vielen kirchlichen Friedhöfen nicht bestattet werden, was auch für die Geheimhaltung von Suiziden spricht.

Oschmanns Band hätte ein wenig mehr analytische Präzision gutgetan, aber unbedingt lesenswert ist diese scharfsinnige Streitschrift in jedem Fall. Das Buch verdient es – mit den Worten des Autors gesagt – im "großen Salon bundesdeutscher Bürgerlichkeit" erörtert und erst recht von allen Interessierten, die noch immer darüber nachdenken, ob die Welt, in der wir leben, nicht nur philosophisch gedeutet werden sollte, sondern auch zum Guten verändert werden könnte, diskutiert zu werden.

Der Osten: eine westdeutsche Erfindung
Der Osten: eine westdeutsche Erfindung
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224 Seiten, gebunden
Ullstein 2023
EAN 978-3550202346

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