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Robert Seethaler: Der letzte Satz

Gustav Mahlers Abschied von der Welt – Robert Seethalers Roman ist voller Melancholie

Robert Seethaler hat in den vergangenen Jahren oft behutsam und dezent, sparsam wie nuanciert Menschen in existenziellen Grenzsituationen porträtiert. Der österreichische Schriftsteller zeigte seine Heimat zu Zeiten des NS-Regimes in dem einfühlsam verfassten und erfolgreich verfilmten Roman "Der Trafikant". Am Ende der Reise seines Lebens befindet sich in seinem neuen, schmalen Buch der Komponist Gustav Mahler, einer änigmatischen Persönlichkeit. Wenige Monate vor seinem Tod sucht Mahler auch noch Sigmund Freud in Leiden auf, den Seethaler damit – nach "Der Trafikant" – ein zweites Mal literarisch würdigt. Von der herben Klangwucht seiner Musik erfahren wir ein wenig, von der spannungsvollen Ehe mit der um 19 Jahre jüngeren, schönen Alma sehr viel mehr.   

Melancholisch wirkt Gustav Mahler, erschöpft, von Krankheiten geplagt, gezeichnet nicht nur vom frühen Tod einer seiner beiden Töchter, sondern auch von den Konflikten mit der zeitgenössischen Opernwelt. Er kehrt zum Sterben zurück nach Europa. Diese Abschiedsmelodie vernimmt der Leser gleich zu Beginn des kurzen Romans: "Der Tee war heiß und er trank langsam. Das war das Einzige, was er heute zu sich nehmen würde. Er fühlte schon lange keinen Hunger mehr, vielleicht würde er morgen wieder essen." Mahlers letzte Sinfonie entsteht noch. Er arbeitet daran: "Arbeiten hieß Überarbeiten." In fließender, auch stockender Bewegung sitzt er an den Stücken, die er fertigstellt, überarbeitet oder verwirft: "Der Schöpfergeist, von dem an der Oper und in den Wiener Künstlerkreisen andauernd die Rede war, stellte sich meistens bloß als Einflüsterer heraus. Er verließ sich lieber auf sein Gehör und noch mehr auf seinen Fleiß. Man musste den Dingen zuhören und sich dann auf den Hintern setzen und arbeiten, das war das ganze Geheimnis." Dass die Rede von Genialität nicht mehr ist als eine ästhetische, allzu luftige Fantasie, wissen künstlerisch tätige Zeitgenossen. Die Arbeit mit Noten erfordert handwerkliche Qualitäten, Übung und Ausdauer. Gustav Mahler erwägt, denkt nach, spricht vor sich hin, seine Frau Alma schläft, vermutlich durchaus behaglich, auf dem Ozeandampfer.

Die letzte Reise bietet die Gelegenheit zur Rückschau in die eigene Lebensgeschichte. In Wien damals "prügelten sich junge Männer um die letzten Karten", denn: "Man wollte dabei sein. Man wollte mitreden. Vor allem aber wollte man diesen kleinen, zappeligen Juden sehen, der es aus unerfindlichen Gründen geschafft hatte, das beste und störrischste Orchester der Welt zu disziplinieren." Mahlers Dirigate waren mehr als nur ein kulturelles Wiener Stadtgespräch. Wenig später verliebte er sich in die sehr junge, ausgesprochen schöne Alma Schindler: "Auf ihrem Gesicht lag der blaue Schein der Nacht. Es gibt keine andere, dachte er. Sie ist mein Glück. Ich weiß nicht, ob ich ihr Glück bin, jedenfalls ist sie meins. Ich weiß nicht, ob ich sie verdient habe. … So ein Gesicht hält jung, und es macht alt. Ich bin ein alter Mann, aber noch reicht es. Eine Weile kann ich noch durchhalten. Ich sollte wach bleiben und mir immer nur ihr Gesicht ansehen." Der Komponist schwärmt, verzückt, wie entrückt, und er verklärt die geliebte Alma. In einem Wiener Café hätten die Ober mit Schmäh gesagt, dass es auch verzuckerten Kaffee gäbe. Gustav Mahler verehrte Alma sehr, und Robert Seethaler geizt nicht mit feierlichen Worten.

Auf der Reise wird er von einem durchaus praktisch veranlagten, bemühten Schiffsjungen befragt, was er für Musik mache. Mahler weist die Frage geradezu brüskiert ab. Man könne nicht über Musik reden, es gebe keine Sprache dafür: "Sobald sich Musik beschreiben lässt, ist sie schlecht." Lesende, die der Musik verbunden sind, werden verwundert sein und staunen. Natürlich gibt es beim Versuch, über Musik zu sprechen, abgeschmackte, fade Wendungen wie "ergriffen" oder – ärger noch – dürftige, dumme Adjektive aus dem Repertoire der Nationalsozialisten wie "gottbegnadet". Aber über Musik schreiben lässt sich schon, denn die Kunst ist ja nicht das ungeheuer Entrückte, vollständig Erhabene, das nur beseufzt, beweint oder bejubelt werden kann. Seethalers Mahler will Musik nicht beschreiben, schon gar nicht seine eigene. Immer wieder kehren seine Gedanken zurück zur verstorbenen Tochter, zur geliebten Alma. Er schwelgt in Erinnerungen: "Er war mit der schönsten Frau Wiens verheiratet, alle liebten ihn, manche verehrten ihn, andere suchten seine Nähe, wollten ihn berühren, seine Hand drücken, ihn umarmen. Wo er musste, ließ er es zu. Wo er konnte, rannte er davon." Doch die schöne Alma hat Affären, und die Spannungen nehmen zu. Schwärmerisch, aber auch grimmig ereifert sich Mahler: "Ich bin eifersüchtig. Ich hasse dich. Und ich liebe dich. Du bist mein Licht." – Sie erwidert: "Mein Gott, bist du dramatisch." Sie habe sich einst in "Gustav Mahler, das Genie" verliebt, sei aber nun "aufgewacht". Okkupiert scheint der Komponist zu sein, nach dem Höheren strebend, dass es vielleicht oder wahrscheinlich doch gar nicht gäbe. Auch Alma äußert sich pathetisch: "Ich habe an dich geglaubt. An deine Musik und den ganzen Zauber rundherum. Ich habe auf dich gewartet: zu Hause, im Theater, in Hotelzimmern. Ich habe immer nur gewartet." Doch sind dies glaubwürdig geschilderte Szenen der Ehe zwischen Gustav Mahler und seiner Frau? Der sonst so zurückhaltend und nuanciert formulierende Robert Seethaler verzichtet hier auf die leise Schilderung der feinen Zwischentöne. So verbittert der Streit zwischen beiden anmutet, so sehr wirken die Worte, die Gustav und Alma Mahler miteinander wechseln, nicht dramatisch, sondern vor allem melodramatisch.

Auf der Seefahrt erzählt der Kapitän des Schiffs von der Endlichkeit und den Lebenswelten in der Tiefsee. Das Meer rauscht aber leise dahin. Die Melancholie wächst ins Unermessliche. Noch einmal erlebt Gustav Mahler den Konzertsaal und wird gefeiert für die "Symphonie der Tausend" – der pompöse Titel stammt nicht von ihm, die Musik schon. Sigmund Freud war er da schon begegnet, in den Niederlanden. Sie gingen spazieren, Mahler berichtete, dass er von dem "kindlichen Schrecken des Verlassenwerdens nicht hinausgewachsen" sei. Freud hörte ihm zu. Sein Rat war, dass er keinen Unsinn reden und die Berge grüßen solle. Mahler bleibt düster: "Es gibt keine Hilfe, dachte er. Und es gibt keinen Trost, man ist alleine auf der Welt." In dem Gedanken der Trostlosigkeit findet der Komponist, der so müde ist, ein paar Augenblicke lang Ruhe. Wenig später stirbt Gustav Mahler. Seine Witwe ist bei der Beisetzung abwesend. 

Robert Seethaler erzählt die Geschichte eines sich unverstanden fühlenden leidenden Musikers teilnahmsvoll. Wortreich, leidend und sentimental bekennt die literarische Figur Gustav Mahler in diesem Roman seine Liebe zu Alma. Die Ehefrau ist betrübt, aber sie glaubt ihm nicht, ebenso wenig der Leser. Wer an die Musik von Gustav Mahler denkt, dem kommen vor allem Momente des Erhabenen in den Sinn, die in vielen seiner Kompositionen vorherrschen. Auch Seethaler pflegt in seinem Erzählstück einen solchen Stil, der manche zu berühren weiß, anderen zu weihevoll, schwerblütig und wuchtig erscheinen mag. Das literarische Bildnis des tieftraurigen Gustav Mahler ist schwer zu verkosten. 


von Thorsten Paprotny - 10. Dezember 2020
Der letzte Satz
Robert Seethaler
Der letzte Satz

Hanser 2020
128 Seiten, gebunden
EAN 978-3446267886