Wirf dein Leben weg, such dir ein neues!
Nochmal ganz vor vorn anfangen im Leben – wer träumt nicht von einer solchen Chance! Aber wie soll das gehen? Kann man wirklich den bisherigen Alltag mit seinen Anforderungen komplett hinter sich lassen?
Diese Möglichkeit eröffnet sich, ganz unversehens, dem Helden in Wolfgang Martin Roths Roman Der Deutsche von Flug 111. Michael Seefelder verpasst seinen Flieger in New York, weil er noch ein Geschenk für seine Frau daheim in Frankfurt besorgen will. Den Check-in hat er bereits hinter sich, schmuggelt sich aber unbemerkt in die Gegenrichtung aus dem Flughafengebäude heraus. Die Maschine fliegt schließlich ohne ihn und stürzt, noch endgültiger, vor Halifax, Nova Scotia, Kanada, in den Atlantik. Es gibt keine Überlebenden.
Zwei Ebenen hat der Roman. Seefelder, 1200 Dollar in der Tasche, irrt durch New Yorks Straßen. Bettina, die hinterbliebene Gattin (die Ehe war gut), fährt an den Absturzort und trauert mit der Gemeinde der übrigen 228 Opfer, von denen sich einige im Lauf der Zeit näherkommen. Auch Bettinas Leben wird sich künftig nahezu vollständig in diesem Kreis abspielen.
Und Seefelder? Hat, warum auch immer, keine Lust, sich bei seiner Frau zu melden. Eine Erklärung wird nicht geliefert. Das ist vielleicht eine der Schwächen des Romans: Die Zeichnung der Charaktere bleibt an der Oberfläche und eine tieferschürfende Studie damit aus. Gleichzeitig ist dies aber auch seine Stärke: Die Handlung weicht nicht von der zentralen Fragestellung ab und wird nicht verwässert. Folglich muss nicht jedes Detail ergründet werden und nachvollziehbar sein. Die Story ist die Hauptsache, nicht das Erzählen, und die Story ist so gut, dass sie ganz von allein trägt.
Seefelder, der Romanheld, hatte lange in den Staaten gearbeitet, spricht akzentfrei Englisch und findet sich mühelos in den American Way of Life ein; seine Frau war vorzeitig nach Deutschland zurückgekehrt, weil sie im US-Bekanntenkreis gefremdelt und keine Freundschaften geschlossen hatte. Nun ist Seefelder frei. Er kauft einem ihm ähnlich sehenden Obdachlosen Führerschein und Versicherungs-ID ab und sieht sich dessen Heimat, Marion im Südstaat Virginia, näher an.
Dort gibt es ein College, mitbegründet von einem Schriftsteller (Sherwood Anderson; der Zusammenhang ist ein wenig bemüht konstruiert), mit dem die Leseratte Maldonado, wie Seefelder jetzt heißt, etwas anfangen kann. Er findet einen Job im Collegebuchladen, auch eine billige Unterkunft, verbringt lesend seine Freizeit und gerät bald an eine neue Frau. Zu diesem Zeitpunkt ist sein zweites Leben ein Jahr alt. Dann beginnt es zu kippen. Und es sind die scheinbar banalen Widrigkeiten des neuen Alltags, kompliziert durch einen scheinbar banalen Zufall, die es scheitern lassen.
Bettina kommt erst nach längerer Trauer wieder auf die Füße. Sie lernt eine neue beste Freundin kennen, aus der Hinterbliebenengemeinde, wird – die Trauerverarbeitung macht’s möglich – eine anerkannte Künstlerin und ist nach ein paar Jahren wieder mit einem Mann zusammen. Anders als ihr Ex-Gatte stürzt Bettina nicht ab.
Das alles wird im Zeitraffer erzählt, mit kurzen Sätzen, gehaltenem Spannungsbogen und immer mal wieder neuen Wendungen, ist also kurzweilig, durchweg fesselnd, auch plausibel – und lässt einen am Ende doch unbefriedigt zurück. Dies dürfte jedoch in der Absicht des Autors zu liegen.
Wolfgang Martin Roth war Pfarrer, ist Psychologe und wird beruflich immer wieder mit am Alltag und durch banale Zufälle Gescheiterten zu tun (gehabt) haben. Selber hat auch er nach der ersten Karriere, nach dem ersten Leben – Pfarrer ist man nicht allein beruflich – eine zweite Chance beim Schopf gepackt. Vermutlich hat er sich auch die Frage gestellt, welche Möglichkeiten eines zweiten Anfangs sich bieten. Diese Frage versucht Roth mit zwei Botschaften an seine Leserschaft zu beantworten.
Die erste lautet: Zeit heilt alle Wunden, wie im Fall Bettinas. Viel stärker belastet als ihr gleichsam davon- wie abhandengekommener Mann, schüttelt sie die Vergangenheit ab; ihr glückt das zweite Leben. Viel weniger optimistisch ist die zweite Botschaft: Obwohl es Seefelder gelingt, tabula rasa zu machen, obwohl er sich bestens in die neue Existenz findet, obwohl er sogar eine neue Familie gründet und mit ihr glücklich ist, haut es ihn aus der Bahn. Sein erstes Leben hat er weggeworfen, sein zweites ist ihm entglitten. Er bräuchte eine dritte Chance, es wird sie nicht geben.
Am Ende begegnen sich Bettina und Seefelder nochmal. Es ist die letzte Szene im Buch. Das Treffen ist bedeutungslos. So bedeutungslos wie Seefelders Leben inzwischen wieder geworden ist.

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