Hannah Arendt, Gershom Scholem: Der Briefwechsel

Wenn eine Freundschaft im Schweigen endet 

Mit einem Austausch über Walter Benjamin und dessen Suizid beginnt dieser Briefwechsel, im Widerstreit über Hannah Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem" endet die Korrespondenz. Die scharfzüngige, politisch oft klarsichtige und essayistisch versierte wie auch pointiert-polemische Philosophin, die unbedingt Denkerin genannt sein wollte, kommentiert beherzt und engagiert Menschen und Geschehnisse in düsteren Zeiten. Auch ihr Gesprächspartner, der überzeugte Zionist und später in Jerusalem über jüdische Mystik lehrende Gershom Scholem, äußert sich nachdenklich, ungeschmeidig und kritisch.    

Am 21. Oktober 1940 schreibt Hannah Arendt: "Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde." In den USA werde über all das mit jener "distanzierten Verzweiflung" gesprochen, die bestehe, wenn man nicht betroffen sei. Benjamin habe den Selbstmord als "Ausweg" gesehen: "Auf meine höchst energische Einsprache, dass man dazu immer noch Zeit habe, wiederholte er sehr stereotyp, dass man das nie wissen könne und dass man auf keinen Fall damit zu spät kommen dürfe." Die Konversationen zeichnen ein facettenreiches Bild der Zeit nach. 

Hannah Arendt bekräftigt 1946 ihre Meinung, dass ein "juedischer Nationalstaat" zwar ein "gefaehrlicher und dummer Spass" sei, findet den Versuch aber erwägenswert. Immer wieder mahnt die streitbare Arendt auch Scholem, er möge nicht so empfindsam und empfindlich sein. Oft aber ist sie selbst bloß ungeduldig, doch ihr gesundheitlich angefochtener Briefpartner bittet um Nachsicht. Er schreibt am 19. Juni 1951, da Hannah Arendt immer wieder eilige Resonanzen vermisst: "Ich bitte Sie also wirklich sehr um Verzeihung, daß ich Ihren Freundschaftsbeweisen nichts entgegengesetzt habe als diese schwarze Front eines hilflosen Verstummens." Zugleich übt Scholem Kritik daran, dass Arendts weithin "ausgezeichnete Analysen" nicht immer überzeugend seien, da er von der "inneren zwangsläufigen Verbindung von Antisemitismus und Totalitarismus" nicht überzeugt sei. Hannah Arendt ist dankbar und zeigt sich nachdenklich, revidiert aber nie ihre politischen Urteile. Ein Jahr später schreibt die euphorische Denkerin: "Ich schwimme froehlich in der Welt herum und lese so wenig Zeitungen wie moeglich." Sie ist ihrem Freund und Lehrer Karl Jaspers in Basel begegnet und schwärmt von einer "Oasis in der Wueste dieser Zeit".

Die Beziehung zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem ändert sich nachhaltig, als Arendts kontrovers diskutiertes Buch "Eichmann in Jerusalem" erscheint. Am 23. Juni 1963 äußert sich Scholem von Jerusalem aus und beklagt eine Reihe von "Missverstaendnissen und Irrtuemern".  Es sei "voellig einseitig" und wirke "bitterboese" – und der "herzlose, ja oft geradezu haemische Ton" verstimmt ihn nachhaltig. Nicht nur Arendts Stil, der – nüchtern besehen – oft eher an eine problematische Reportage erinnert, bleibt verstörend, insbesondere ihr Verdikt über die Judenräte in Auschwitz ist Scholem unbegreiflich. Die Philosophin weist ihnen eine Mitwirkung am Holocaust zu. Sie behauptet vehement und selbstgewiss, die Judenräte hätten "bei der Hinrichtung ihrer Mitgefangenen" assistiert. Scholem spricht von einem "oft ins Demagogische ausartenden Overstatement" und findet ihre Einschätzungen inakzeptabel: "Es hat die Judenraete gegeben, einige unter ihnen waren Lumpen, andere waren Heilige. Ich habe ueber beide Typen viel gelesen. Es gab sehr viele Mittelmenschen wie wir alle, die unter unwiederholbaren und unrekonstruierbaren Bedingungen Entschluesse fassen mussten. Ich weiss nicht, ob sie richtig oder falsch waren. Ich masse mir kein Urteil an. Ich war nicht da." Arendt nimmt Scholems Kritik zur Kenntnis und bleibt mit Blick auf die "Kooperation jüdischer Funktionäre" bei ihrer dezidierten Auffassung. Sie weicht von ihrer als unbedingt richtig angenommenen Meinung nicht ab und formuliert, was sie von den Judenräten erwartet hätte: "Es gab keine Möglichkeit des Widerstandes, aber es gab die Möglichkeit, nichts zu tun." Hat sie recht? Scholems begründete Einwände scheinen mehr als nur bedenkenswert zu sein.

Brieflich bleiben die beiden noch wenige Monate im Gespräch, anhaltend im Dissens über Arendts Thesen. Die Philosophin beendet den Briefwechsel im Oktober 1963. Gershom Scholem äußert am 27. Juli 1964 die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Er hält 1964 die jährliche "Leo Baeck-Lecture" in New York, über Walter Benjamin, und schreibt: "Ich bin nach Ihrem Verstummen seit vorigen Herbst nicht gewiß, wie dies zu verstehen ist. Wenn wir uns aber wiedersehen wollen, so ist dies, falls Sie um diese Zeit in New York sind, der gegebene Moment." Arendt hat diesen Brief nicht mehr erwidert. 

Der sorgfältig edierte Schriftwechsel zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem bleibt wertvoll und unbedingt lesenswert, weil auch die Kontroverse über Arendts wirkmächtiges Buch anhält. Ebenso wird die Philosophin Hannah Arendt diesseits und jenseits des Atlantiks hochgeschätzt, mitunter möglicherweise auch verklärt. Für die Politische Theorie wie für die Philosophie bleibt eine kritische Reflexion unabdingbar. Es gilt, die Wahrnehmung auf eine streitbare, unbestreitbar wichtige und höchst eigenwillige politische Denkerin neu zu schärfen. Zu einer sachgerechten Reflexion über die Bedeutung der oft provokativen, ungeschmeidigen Theorien und Ansichten von Hannah Arendt lädt dieses Buch ein. Für jede Generation politisch-philosophisch wie historisch interessierter Leser bleibt der Briefwechsel zwischen Arendt und Scholem unbedingt lesenswert.

Der Briefwechsel
Der Briefwechsel
1939-1964
695 Seiten, gebunden
Suhrkamp 2010

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