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Petra Meschede: Der Altar von Ulrich Rückriem

Ulrich Rückriems Altar im Hildesheimer Dom – ein kubisches Kunstwerk

Zum UNESCO-Welterbe gehört der Hildesheimer Dom St. Mariä Himmelfahrt bereits seit 1985. Einzelne Kunstwerke, die seit der umfassenden Sanierung der Kathedrale von 2010 bis 2014 in ein neues Licht gerückt wurden, werden in einer sinnreich illustrierten und künstlerisch hochwertigen Buchreihe "Schätze aus dem Dom zu Hildesheim" seit einigen Jahren vorgestellt – für religiös musikalische Leser, nicht weniger für Kunstinteressierte. Die promovierte Kunsthistorikerin Petra Meschede hat nun einen schmalen Band zu dem neuen Altar in der Domkirche vorgelegt, der imposant, auf eigene Weise monumental und erdnah anmutet und bei der feierlichen Wiedereröffnung der Kathedrale 2014 vom damaligen Bischof Norbert Trelle konsekriert wurde. Wer den Hildesheimer Dom heute besucht, begegnet staunend einem "modernen und als Solitär wirkenden, dennoch zurückhaltenden Altar".

Der mit Naturstein arbeitende Bildhauer Ulrich Rückriem legte damals Ideen für den gesamten Chorraum vor. Der Künstler wurde vom Domkapitel damit beauftragt, allein den neuen Hauptaltar der Kirche zu gestalten. Petra Meschede beschreibt den Chorraum: "Der Altarraum im Hildesheimer Mariendom geht in seiner Ursprungsform auf die für die Romanik typische, erhöhte Chorapsis mit darunter liegender Krypta zurück. Beim Wiederaufbau der Kathedrale nach dem Zweiten Weltkrieg hat man diesen Chorraum in dieser Weise wieder rekonstruiert, also auf die Krypta aufgebaut. Allerdings wurden die vorderen Zugänge zur Krypta verschlossen, um eine breitere Treppe zu installieren." Im Zuge der Domsanierung sollte allerdings die "überbreite Altartreppe" angemessen reduziert werden, der Zugang zur Krypta neu geöffnet und der Kirchenraum wieder in seiner ursprünglichen Logik und Schönheit erfahrbar werden. Das ist, wie Besucher des Hildesheimer Domes immer neu bestätigen, auf eine beeindruckende Weise gelungen.

Aus dem "monolithischen Felsblock" schuf Ulrich Rückriem ein "kubisches Kunstwerk".

Der neue Altar von Ulrich Rückriem wirke "schlicht, fast unscheinbar". Gefertigt wurde dieser aus einem Gestein, das Anröchter Dolomit genannt ist, ein "etwa 120 Millionen Jahre alter Kalksandstein, der sich aus Muscheln und Sand im Laufe der frühen Erdgeschichte gesammelt hat" und sich durch Härte und Robustheit auszeichnet. Der Hildesheimer Altar wiegt 3,5 Tonnen. Aus dem "monolithischen Felsblock" schuf Ulrich Rückriem ein "kubisches Kunstwerk": "Die Innenseiten sind nach dem Sägen mit Blattgold verziert worden. Das Gold betont den Standort in der Kathedrale und damit auch die Ursprünge des Bistums, da der Altar direkt über dem goldverzierten Reliquienschrein des Heiligen Godehard in der Krypta steht. Diese vertikale Verbindung reicht noch tiefer, da wiederum der goldene Reliquienschrein aus dem 13. Jahrhundert über dem Grab des Heiligen Godehard – der erste Heilige des Bistums – aufgestellt ist. So entsteht eine direkte, intensive, historische Verbindung zu den Ursprüngen des Bistums Hildesheim."

Petra Meschede stellt zudem sensibel und kenntnisreich die Arbeitsweise des Bildhauers Ulrich Rückriem vor und zeigt in dem Band anschaulich, dass auch die Geschichte des Welterbes gewissermaßen kunstvoll fortgeschrieben werden kann – am Beispiel eines neuen Altares, der in eine kunstgeschichtlich bedeutsame Kathedrale und auch in die Glaubensgeschichte des Bistums harmonisch eingefügt und sinnvoll integriert ist.

"Keine Figur, kein Schnörkel, keine illustrative Geschichte, die im Laufe der Zeit in Antependien oder auf Altären gezeigt wurden, soll von dem Ursprünglichen, von der Natur ablenken."

In der Kirche findet sich neben dem Figürlichen der bronzenen Bernwardtür nun die "Abstraktion" in Gestalt des Altares von Rückriem: "Keine Figur, kein Schnörkel, keine illustrative Geschichte, die im Laufe der Zeit in Antependien oder auf Altären gezeigt wurden, soll von dem Ursprünglichen, von der Natur ablenken. Rückriem führt seine Arbeit auf einen Urzustand zurück, der Millionen Jahre zurückliegt. Nichts Figürliches lenkt von diesem Urzustand ab. Der Hauptaltar ist das erste abstrakte, rein geometrische Kunstwerk in der Kathedrale." 

In dem vorliegenden Buch lernen Leserinnen und Leser auch das Zusammenwirken und Zusammenspiel von Kunst und Religion kennen, wie dies auf einzigartige Weise in der Schönheit der Hildesheimer Domkirche sichtbar wird. Wichtig ist Ulrich Rückriem, so betont die Autorin, dass der "eigentliche Sinn des Gegenstandes", also des Altares, nicht in den Hintergrund tritt. So verzichtet er auf jede "skulpturale Opulenz". Rückriems Altar ist zweifellos ein sehr besonderes Kunstwerk der Gegenwart, aber vor allem Gaben- bzw. Opfer in den heiligen Messen, die im Dom St. Mariä Himmelfahrt gefeiert werden. Nichtsdestoweniger mögen alle Reisenden, ob gläubig oder nicht, den Altar von Ulrich Rückriem anschauen, bestaunen und würdigen – und die kunstvolle Arbeit des Bildhauers, die Petra Meschede in diesem lesenswerten Buch beschreibt, bewundern und wertschätzen. 


von Thorsten Paprotny - 10. Oktober 2022
Der Altar von Ulrich Rückriem
Petra Meschede
Der Altar von Ulrich Rückriem

Aus Felsen gezogen
Schnell & Steiner 2022
64 Seiten, broschiert
EAN 978-3795437619