Christoph Heiß: … denn Sein ist

Philosophische Höhenflüge

Seit alters stellen Philosophen die sogenannten großen Fragen. Mit Persönlichkeiten wie Sokrates, Platon, Thomas von Aquin, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel verbinden Fachwissenschaftler, Gelehrte und schlicht Interessierte die Erkundung der Welt des Geistes und die Suche nach einem adäquaten Verständnis von Mensch und Welt. Die Fragen reichen auf gewisse Weise bis in die Unendlichkeit, bis zu den Anfangsgründen des Denkens, greifen Fragen von Vernunft und Glaube auf und nach der Zukunft der Gesellschaft. Zahlreiche Philosophen des Altertums, darunter Aristoteles, haben insbesondere auch Denkmodelle über die Ordnung der Natur entwickelt. Bis in die Moderne hinein widmeten sich auch Physiker wie Carl-Friedrich von Weizsäcker oder Werner Heisenberg der Philosophie und reflektierten staunend über diese Welt, die in vielem doch rätselhaft anmutet. Änigmatisch indessen bleiben auch viele Werke der Philosophie für die Leserschaft. Christoph Heiß, ein philosophierender Mediziner, begibt sich auch auf eine Reise in die Sphären der Naturphilosophie.

Der Autor begibt sich kenntnisreich in die Anfänge des antiken Denkens und würdigt insbesondere Parmenides von Elea. Wenn andere Philosophen Gedanken darüber anstellen, was Zeit ist – wie etwa Augustinus –, so sucht Heiß vorwiegend nach Antworten auf die Frage, was das Sein ausmacht, die er auch in Zusammenhang mit dem Phänomen der Zeit bringt. Den Gedanken der Vergänglichkeit weist er zurück. Nun würde die Biologie, manchmal auch die schlichte Wahrnehmung des Alltags doch Momente der Endlichkeit erkennbar lassen, denn alle Lebewesen, eingeschlossen auch der philosophierende Mensch, sind in den Prozess des Vergehens eingebunden. Sie mögen dies als philosophisch fragwürdig ansehen, aber aufheben lässt sich das Sterben-Müssen nicht. Die Annahme, dass die „vergehende Zeit“ oder auch die „Vergangenheit“ nicht mehr als „subjektive, anthropozentrisch naive Vorstellungen“ sind, lässt sich als eine gewagte These ansehen, ebenso die Vermutung, dass solches eine „Fehlinterpretation der objektiven Zusammenhänge“ bedingen könnte. Heiß formuliert: „Vielleicht ist der Mensch vom nichtlokalen Standpunkt aus betrachtet entgegen allem lokalen Augenschein gar kein vergänglicher »Organismus«, sondern existiert objektiv zeitlos und schlechthin als ein komplexer organischer Prozess zwischen Geburt und Tod, wobei er selbst aber bestenfalls nur seine aktuelle Gegenwart bewusst wahrnehmen kann? Wohin genau sollte diese Gegenwart denn aus physikalischer Sicht vergehen?“

Als Gedankenspiel mag dies durchaus anregend sein, und wer philosophisch sich diese Denkwege vergegenwärtigen möchte, begibt sich mit Heiß auf eine geistvolle Wanderung. Wenn aber ein überzeugter Konstruktivist – auch solche Mediziner gibt es – behauptet, dass ein Beinbruch nicht ein objektives Faktum sein muss, sondern nur eine spezifische Wahrnehmung, so bestreitet dieser Konstruktivist die handfeste objektive Wirklichkeit, denn das Bein bleibt gebrochen, auch wenn niemand den Beinbruch als solchen wahrhaben möchte. Und wenn ein Bruch erfolgt ist, gibt es auch etwas, das über die von Heiß vertretene These der „aktuellen Gegenwart“ hinausreicht, also ein wie auch immer zu bezeichnendes Vorher. Im Weiteren diskutiert der Autor die Spannweite zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit: „Zur Veranschaulichung der Relation zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, also zwischen Zukunft und Gegenwart, stelle man sich den digitalen Kalender im eigenen Smartphone vor. Der Ostersonntag 2035 zum Beispiel kann dort jederzeit auf dem Display aufgerufen werden, aber solange man ihn nicht aufruft, ist er nicht real.“ Indessen, selbst wenn ein Smartphone-Nutzer heute diesen Tag im Jahr 2035 aufruft, so wird der Tag dadurch nicht real. Angezeigt wird etwas, das in Zukunft sein wird, und es bleibt offen, ob der Nutzer diesen Tag überhaupt erlebt. Der Blick in die Zukunft lässt, naiv gedacht, die Zukunft nicht zur Gegenwart werden.

Christoph Heiß stellt Gedanken zum „Geheimnis des Lebens“ an. Es bestehe darin, „Energie selbst zu produzieren“: „Energie als Quelle der Dynamik der Wirklichkeit entspringt nicht der Lokalität, sondern der transzendenten Nichtlokalität. Die Eigenproduktion von Energie ist die Voraussetzung für die einzigartige Fähigkeit lebender Prozesse, sich dem Prozess der allgemeinen Entropiezunahme im lokalen Universum entgegen zu stemmen. Energie kann dann mit dem kreativen Geist, der Potenzialität der Zukunft, gleichgesetzt werden.“ Die meisten Leser werden bei Passagen wie diesen tief durchatmen müssen, weil ihr endlicher Verstand nicht weit genug reicht, um diese philosophischen Gedanken erfassen zu können. So dürften manche Interessierte dieses knappe Buch wieder und wieder studieren, um sich in die Darlegungen zu vertiefen und einen Erkenntnisgewinn für ihre vielleicht eigenen großen Fragen philosophischer Art zu generieren. Erkunden lassen sich sodann weiterhin die Überlegungen des vorsokratischen Philosophen Parmenides, die Christoph Heiß vorstellt und deutet, und wer sich diesem Abenteuer stellen möchte, wird so manche Denkanstrengung dafür benötigen, um die Darlegungen nachzuvollziehen.

Philosophie erweist sich – und das zeigt dieser bemerkenswerte Band auf eine höchst eigene Weise – als gedankenvolle Anregung zu interessanten Mutmaßungen und Erkenntnissen, die Fächer verbinden kann. Dies war nicht nur im Altertum möglich, eine solche Kunst des Denkens kann auch heute noch gelingen und ist mitnichten ein Ausdruck eines fruchtlosen Müßiggangs. Zugleich bleibt der Eindruck einer subjektiven Skepsis, die nicht philosophischer Art ist, aber – wie oben angedeutet – einer anderen Naturwissenschaft geschuldet ist. Kommt die Philosophie ohne Weiteres an den Fakten der Biologie vorbei? Anders formuliert: Das „Geheimnis des Lebens“ könnte auch sehr viel nüchterner als Einsicht in die Endlichkeit verstanden werden. Philosophieren heiße, so lehrte der französische Denker Michel de Montaigne, sterben lernen. Auch im Alten Testament begegnet uns das: „Memento mori!“, verstanden also in dem Sinne: „Gedenke des Todes, auf dass du klug wirst.“ Christoph Heiß lädt zu philosophischen Höhenflügen ein. Wer mitreisen möchte, dem sei dieser Band zur Lektüre empfohlen.

… denn Sein ist
… denn Sein ist
Auf der Suche nach der erfundenen »Zeit«
101 Seiten, gebunden
Freigeist 2024
EAN 978-3947764105

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