David Beauchard: Die heilige Krankheit

Dämonendämmerung

Der französische Comiczeichner David B. zeichnet die Geschichte seiner Familie aus der Perspektive eines Heranwachsenden, dessen Leben von der Epilepsie seines älteren Bruders überschattet wird. „Die heilige Krankheit“ - ein comicales Meisterwerk in Schwarz-Weiß.

aus David Beauchard: Die heilige Krankheit
aus David Beauchard: Die heilige Krankheit

Im Rahmen meines Zivildienstes war ich das erste Mal Zeuge des sich unter einer wahnsinnigen Kräfteexplosion vollziehenden Abgleitens in eine andere Welt, das allgemein unter dem Namen Epilepsie bekannt ist. Und schon damals erfasste mich die Frage, was bei einem solchen Anfall genau geschieht und vor allem, was mit demjenigen, diesen Anfall Erleidenden geschieht. Verhält es sich, wie der antiquiert anmutende Name Fallsucht vermuten lässt, tatsächlich so, dass sich ein Epileptiker während einer Attacke in einem Fall befindet, in einem Schwebezustand zwischen verschiedenen Bewusstseinsdimensionen? Oder ergreift hier einfach eine unheimliche Macht gnadenlos Besitz von einem Menschen?

Der französische Comic-Autor David B. ist diesen und anderen Fragen auf den Grund gegangen und hat dabei seine ganz persönlichen Erfahrungen mit der Epilepsie seines älteren Bruders Jean-Christophe in einer graphischen Novelle verarbeitet. „Die heilige Krankheit“, so der Übertitel der zwei deutschen Bände, die die antike griechische Bezeichnung des Krampfleidens zitieren. Auf insgesamt 382 Seiten hat der Franzose den intimen Kampf seiner Familie zunächst gegen die und dann mit der Krankheit und das sich damit Abfinden und Arrangieren gezeichnet. Früher habe er nie die richtigen Worte gefunden, wenn er gefragt worden ist, wie das sei, ein epileptischer Anfall. „Ich merke, wie meine Zuhörer an meinen Lippen hängen, und ich enttäusche sie. Es ist schwierig das zu sagen. Eines Tages werde ich es zeichnen.“, schildert B. seinen Antrieb für das graphische Vermächtnis seiner Familiengeschichte am Ende des abschließenden zweiten Bandes „Schatten“. Und man muss sagen, es ist ihm auf faszinierende Weise gelungen, die Frage nach dem Wesen eines Anfalls zu beantworten. Immer wieder taucht hinter dem gezeichneten Bruder (und dies ist sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinne zu verstehen) ein fabelgleiches Ungeheuer, ein Dämon auf, welches an chinesische Drachen denken lässt und zunehmend Besitz von seinem Bruder ergreift. Es überwächst den Leidenden, übergroß fällt es über ihn her, wirft ihn um, nimmt ihn in die Mangel – einer Schraubzwinge gleich hält es ihn gefangen.

David B. ist ein Ästhet, ein wirklich Großer unter den Comiczeichnern, der nicht nur einfach Bildergeschichten entwirft sondern die Kommunikationsmöglichkeiten des Mediums neu erfindet. In seinen Comics sprechen die Personen, doch die Bilder sind es, die erzählen, berichten, dokumentieren und erklären, im Einzelnen wie auch im Ensemble. Seine Zeichnungen sind die graphischen Metaphern seiner Erzählungen, die sie so einzigartig und genial machen. Wenn er nie die richtigen Worte gefunden hat, um einen epileptischen Anfall zu erklären, so hat er zweifelsfrei auf nahezu wahnwitzige Weise die richtigen Bilder entworfen, die dem Leser-Betrachter die Krankheit in all ihren Aspekten greifbar macht. Eine Krankheit, die jahrelang im Stillen vor sich hin dämmern kann und allein mit ihrem Dasein belastet. Eine Erkrankung, die plötzlich ausbricht, wie ein Vulkan zu explodieren vermag und nicht mehr loslässt. Sie erfasst nicht nur ihr direktes Opfer, sondern zieht auch seine Umwelt in ihren Bann. David B.s autobiographische Bildergeschichte ist voller Phantasiegestalten, Fabelwesen, Monster, Geister und mythologischer Gefährten. Diese sind jedoch keine notgeborenen Hirngespinste, sondern diese Gestalten sind die Antworten des Autors auf die selbst gestellten Fragen nach dem Wie und Warum des Leidens, an dem die ganze Familie krankt („Wir sind solidarisch mit Jean-Christoph. Wir sind krank von seiner Krankheit.“).

Im Alter von sieben Jahren hatte David B.’s Bruder Jean-Christoph seinen ersten Anfall. Die Ärzte diagnostizierten die „heilige Krankheit“ und mit dieser Diagnose beginnt eine verrückte Suche nach einer schulmedizinischen Heilmethode, die David B. selbst als den „großen Reigen der Ärzte“ bezeichnet. Allein wie er hier die verschiedenen Ärzte einen fröhlichen Reigentanz vollführen lässt, macht seinen Einfallsreichtum im Umgang mit Wort und Bild deutlich. B. beschreibt, wie sich die verschiedensten, selbst ernannten Experten als vermeintliche Götter in Weiß gerieren. Doch keiner wird Jean-Christoph auch nur annähernd helfen können. Die ausgehenden sechziger und beginnenden siebziger Jahre haben aber zahlreiche tatsächliche und vermeintliche Alternativen zur Schulmedizin hervorgebracht, welche die Familie in der Hoffnung auf die Genesung des versehrten Mitglieds nahezu lückenlos erprobt. Von A wie Akupunktur und Alchemie über H wie Homöopathie, M wie Magnetismus oder Makrobiotik bis hin zu S wie Spiritismus und V wie Vegetarismus. Und wenn B. diese modernen Hexer der Alternativmedizin als „Artisten des Irrationalen“ bezeichnet, erhält man einen Eindruck der Genialität des Zeichners, der seinen Texten ebensoviel Aufmerksamkeit und Einfallsreichtum zukommen lässt, wie seinen Zeichnungen.

Die Suche nach heilbringenden Händen wird zur familiären Obsession, zur alles bestimmenden Realität im Marx’schen Sinne des Bewusstsein bestimmenden Seins („Wir wurden belogen, niemand konnte je etwas für ihn tun. Wir wissen es jetzt. Aber wir machen dennoch weiter.“). Dass das Familienleben dabei zu kurz kommt, jeder auf seine eigene, persönliche Weise unter dieser familiären Odyssee leidet und seine persönlichen Wege aus diesem Dasein sucht, wundert letztlich nicht. Der ganz persönliche Umgang mit der täglichen Last der Fallsucht des hassgeliebten Bruders besteht für David B. im Zeichnen. Vor allem die großen Schlachten der Menschheit versucht er dabei in ein Bild zu fassen, wobei es ihm vor allem die Mongolen um Dschingis Khan angetan haben. Dabei symbolisieren die großen Gefechte der Menschengeschlechter letztlich nur die Intensität und Gewalt der Krankheit des Bruders. „Ich hatte immer Angst vor dem Krieg“ erfährt David B. am Ende des zweiten Bandes von seinem von der Krankheit gezeichnet Bruder. „Ich auch“, entgegnet ihm B. „Ich habe ihn oft gezeichnet. Es hatte etwas von der Brutalität deiner Anfälle, die ich zu verstehen versuchte.“ Mit jedem Anfall zerstört die Krankheit den älteren Bruder und jedes Mal reißt sie ihn ein wenig mehr aus den Armen des Lebens und stürzt ihn in ein Chaos, aus dem es keinen Ausweg gibt. Denn „in dieser Welt gibt es keine Ordnung, armer Bruder, da nichts dich heilen kann.“

Mit dem zweiten Band „Schatten“ schließt die „Edition Moderne“ die deutsche Ausgabe der preisgekrönten Familienchronik ab. „Die heilige Krankheit“ ist nicht nur für jeden Fan anspruchsvoller graphischer Literatur ein Muss, sondern auch für jeden Freund niveauvoller Lektüre unumgänglich. Faszinierend, lehrreich und ergreifend ist David B.’s intime und intensive Familiengeschichte ein sprachliches und zeichnerisches Zauberwerk in Schwarz-Weiß. Und auch wenn „Die heilige Krankheit“ - eine Perle in der europäischen Comiclandschaft.

Die heilige Krankheit
Die heilige Krankheit
Geister / Schatten
174/207 Seiten, gebunden

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