Heiliger Herr im Himmel - ist das nicht geradezu herrlich!
Polly und Digory, zwei Kinder aus London, blicken sich ängstlich um. Doch die sie umgebende Dunkelheit ist undurchdringlich. Kein Laut ist zu hören und selbst die Luft scheint still zu stehen. Sie befinden sich in einem Nichts. Doch dieses Nichts beginnt zu klingen. Ein Gesang ohne Text und Melodie erklingt, wechselt die Richtung, ja scheint sogar aus dem Boden unter ihren Füssen zu kommen. Es ist das Schönste, was die beiden je gehört haben. In die dunkle Stimme fallen weitere ein, unzählige kalte klare klirrende Silberstimmen. Und als ob eine unsichtbare Hand einen Schleier wegreißt, prangen am Himmel von einer Sekunde auf die nächste unzählige flammende Sterne, Sternbilder, Planeten und Galaxien. Bevor sie sich von ihrer Überraschung erholen können, geht langsam die Sonne auf und sie erblicken den Sänger. Es ist ein riesiger, zotteliger Löwe, der mit weit aufgerissenem Maul singt und sich Schleifen ziehend auf sie zu bewegt. Um den Löwen herum beginnt Gras zu wachsen und breitet sich dann schneller immer weiter aus. Löwenmäulchen, Gänseblumen, Tausendschön, Rosen, Flieder und viele weitere Blumen sprießen überall und eine sanfte, angenehme Brise streicht durch das Tal. Aus Stämmen, dünn wie Streichhölzer, wachsen überall auf den Berghängen in rasanter Geschwindigkeit Erlen, Tannen, Fichten, Buchen und Weiden, während sich von Zeit zu Zeit die Tonlage der Musik ändert. Digory schaut sich fasziniert um und kann sich gar nicht satt sehen an dem Wunder, das er gerade miterlebt. Doch dann glaubt er, seinen Augen nicht trauen zu können: Vor ihm taucht eine Miniaturstraßenlaterne aus dem Boden auf und wächst rasant in die Höhe. Onkel Andrew tritt hinzu und sagt: "Erstaunlich was hier alles wächst! Nur ist mir nicht klar, aus was für Samen Laternen entstehen?" Und Digory fügt begeistert hinzu: "Und brennen tut sie auch!"
Witz und Gerechtigkeit
Polly und Digory heißen die beiden jugendlichen Protagonisten in C. S. Lewis erstem Buch der 7-teiligen "Chroniken von Narnia". Vom bösen Onkel Andrew gezwungen, begeben sich die beiden Kinder auf die gefährliche Reise in ein Paralleluniversum. Gemeinsam mit einigen unfreiwilligen Begleitern stranden sie "im Nichts" und erleben im vorliegenden Hörbuch namens "Das Wunder von Narnia" die Geburt einer Welt. In dieser Welt leben alle nur denkbaren Mythen- und Sagengestalten wie pferdige Zentauren, einäugige Zyklopen, fischschwänzige Nixen oder flüchtige Elementargeister. Und alle diese Kreaturen wurden von Aslan, dem Löwen, zum Leben erweckt. Doch beansprucht er keine Gewalt über seine Mitbewohner, sondern erklärt sich zum ersten Diener der Gemeinschaft. Lewis große Themen waren neben Spiritualismus stets die Aufopferungsbereitschaft des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und der Demut gegenüber der Schöpfung. Auch in den "Chroniken von Narnia" sind diese Themen vorhanden, werden allerdings nicht plump in den Vordergrund gespielt, sondern mit viel Humor und Witz in einem zeitlosen Gewand präsentiert.
Dies ist einer der Gründe, warum Lewis "Chroniken von Narnia" auch heute noch so viele Menschen jeden Alters begeistern. Er ist kein Oberlehrer oder flammender Eiferer, sondern artikuliert in seinen Werken nur den Glauben, dass es für jeden Einzelnen wichtig ist, an bestimmten Werten oder Grundsätzen festzuhalten. Die persönlichen Erlebnisse während der aktiven Teilnahme am Ersten Weltkrieg haben sowohl ihn als auch seinen besten Freund J. R. R. Tolkien stark beeinflusst. Dabei haben sie gelernt, dass niemand "nur gut" oder "nur böse" ist. Aber sie haben auch gelernt, dass man zu seinen Handlungen und deren Konsequenzen stehen muss.
So auch in "Das Wunder von Narnia" wo durch die Neugier der Kinder, de facto ein geplanter Einbruch in ein leer stehendes Haus, die Kette der Ereignisse erst in Gang gesetzt wird.
Oder als Digory voll brennender kindlicher Neugier eine klitzekleine Glocke anschlägt, die die böse Hexe erst zum Leben erweckt. Die Erlösung der Hexe kann er nicht mehr rückgängig machen, doch er stellt sich seiner Verantwortung und unternimmt alles, damit sie wenigstens keinen Schaden mehr anrichten kann.
Stimmige Vielstimmigkeit
Der Verlag fügt der Lesung von Philipp Schepmann noch eine räumliche Dimension hinzu. Die Stimmen klingen mal von rechts oder links, oben oder unten oder es erklingt ein ganzer Chor von Fabelwesen, der König Aslan begrüßt. Doch auch ohne die technische Spielerei beherrscht der Sprecher das Hörbuch von der ersten bis zur letzten Sekunde. Besonders gelungen ist die Präsentation des bösen Onkels Andrew. Dabei reicht die Breite der vermittelten Gefühle von hinterlistig-lauernd über demütig-dienernd bis euphorisch-größenwahnsinnig. Doch nicht nur den Protagonisten verleiht er unterschiedliche Stimmen, sondern pausiert geschickt an außergewöhnlich spannenden oder traurigen Stellen oder zögert den Vortrag ein winziges Stückchen raus, um eine besonders witzige oder anrührende Passage wirken zu lassen.
Fazit: Im ersten Teil der "Chroniken von Narnia" erfahren wir alles, was beim Film vorausgesetzt wird: Was und wo ist Narnia? Wer ist Aslan und wo kommt er her? Wie kam das Böse in diese Welt? Und als wichtigste Frage: Wie kommt eine alte, doch einwandfrei funktionierende Gaslaterne nach Narnia??? Dieses Hörbuch gibt Antworten auf diese und noch viele weitere ungestellte Fragen, wie zum Beispiel "wie kommt J. K. Rowlings nur auf all ihre Ideen für Harry Potter?"
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