Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen

Gewinnerlos

Die Autorin wird einigen bekannt sein, denn "Der Flusskönig" ist immerhin der vierzehnte Roman der 1952 geborenen Amerikanerin. Es ist kein lautes Buch, keines das nach einer Fortsetzung oder Verfilmung ruft! Der Roman lebt von seinen Bildern, er ist überaus stimmungsvoll und poetisch erzählt. Es ist ein leises Buch, welches keinerlei großer Aktionen bedarf um die Atmosphäre des kleinen fiktionalen Ortes Haddan am gleichnamigen Fluss in Massachussetts zu beschreiben. In diesem Haddan gibt es eine Internatsschule von Tradition und nun wäre es einfach zu sagen, "Der Flusskönig" steht in der Folge von Donna Tartts "Die Geheime Geschichte". Es erinnert lediglich an Tartt, und ist doch ein ganz anderes Buch.

Es gibt nicht ein Thema des Buches, es sind viele zwischenmenschliche Inhalte, die angerissen und angesprochen werden: Freundschaft/Familie, es geht um Tote und Überlebende, um Schuld und Reue, aber auch Schuld und Sühne, Ignoranz/Arroganz, Mut und Feigheit, Hass und Liebe und - nicht zu vergessen, - die Trauer, die das ganze Buch wie ein roter Faden durchzieht: die Trauer der Toten und die Trauer der Überlebenden.

Die Haddan School besteht seit mehr als hundert Jahren und doch ist sie ein Fremdkörper für die Einheimischen geblieben. Einwohner und Lehrpersonal haben nichts miteinander zu schaffen. Die letzte Gelegenheit, dies zu ändern, ging mit der unglücklichen Ehe zwischen der Dorfschönheit Annie Jordan und dem Schuldirektor Dr. Howe gründlich daneben und endete mit Annies Selbstmord. Schulangehörige und Einheimische leben nebeneinander her, es gibt keine offenen Feindseligkeiten, aber auch keine Freundschaften. Daran würde normalerweise auch der Tod eines Schülers, Augustus Pierce, nichts geändert haben, wäre da nicht der Polizist Abel Grey, der spürt, hinter Gus' Tod steckt mehr als ein Unfall. Und Abel läßt sich von nichts und niemandem abhalten, eine Erklärung zu finden, denn "(...) Abe wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Toten sprachen und den Lebenden die Schuld zuwiesen an allem, was sie getan oder unterlassen hatten." Er läßt sich auch nicht ablenken, als er ganz überraschend feststellt, dass er, obwohl er sich für immun gehalten hatte, die Liebe zu einer Frau gefunden hat. Im Verlauf des Romans muss Abel erkennen, dass ihm die vertraute Welt fremd wird, das was er zu kennen glaubte, entpuppt sich als etwas anderes. Die Menschen und die Umgebungen verändern sich, verlieren den gewohnten Anblick.

Oftmals sind es die kleinen Dinge, die das Buch so liebenswert machen, wie die Erwähnung der Mäuse und ihrem Treiben, wie überhaupt die Natur mit Tieren und Pflanzen eine eigene Rolle im Personal des Romans haben dürfen: "Im Oktober, wenn die Ulmen ihre Blätter abwarfen und die Eichen von einem Tag auf den anderen gelb wurden, kamen die Mäuse aus dem hohen Gras am Flussufer und machten sich auf die Suche nach einem Unterschlupf. Die Mädchen in St. Anne's fanden sie oft in den Schubladen ihrer Kommode oder eingekringelt in ihren Schuhen neben dem Bett." An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass es der Autorin nicht um Tempo geht, sie ist mehr daran interessiert, zu beobachten und daran zu erinnern, was zu Beginn des Herbstes geschieht. Ein weiteres Beispiel zeigt eine sensible Autorin, der es gelingt mit kleinen Sätzen große Wirkung zu erzielen: "So ist das Leid: Es verfolgt den, der vor ihm flieht, und hinterlässt eine endlose Spur der Trauer."

Wer Alice Hoffman als Autorin noch nicht kennt, dem sei dieses 352 Seiten starke Buch empfohlen, wer sie kennt, wird es ohnehin lesen.

Das Orangenmädchen
Das Orangenmädchen
187 Seiten, gebunden
Hanser 2003
EAN 978-3446203440

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