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Helene Kynast: Das Mädchen ohne Gesicht

Schicksal oder Zufall?

"Er wollte sie nur beschützen. Vor Wailand, dessen schwarze Silhouette gerade über der Felsklippe aufgetaucht war und jetzt im vollen Mondlicht stand. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Der schmale Steg aus Holz war moosig und glatt. Doch dann machte sie diesen falschen Schritt."

"Lisa! Lisa!"

"Der da oben soll aufhören zu rufen! Sie kann ihn doch jetzt nicht mehr hören!"

Das Ereignis liegt schon ein Jahr zurück, aber Hendrik ist noch nicht über den Schmerz hinweg gekommen. Seine Familie hat sich ihm zuliebe dazu entschlossen, umzuziehen, doch das hilft ihm leider auch nicht weiter. Der schlimme Moment wird immer in seinem Gedächtnis haften bleiben, und er wird das Geschehene nie verstehen können: Was war mit seiner Lisa los gewesen? Seinem Liebling, mit dem er solch schöne Stunden verbracht hatte, den er über alles geliebt hatte? Der eine Satz lässt Hendrik nicht mehr los: "Sie hat einen falschen Schritt gemacht!"

Lisa war Hendriks Freundin. Sie hatte den Tod aus enttäuschter Liebe und Verzweiflung gesucht. Da war dieser Weiland, Lisas heimlicher Verehrer, oder gar ihr Liebhaber? Hatte es direkt mit ihm zu tun, dass sie den Weg zu den Felsklippen ging und schliesslich den letzten, entscheidenden Schritt tat? Wollte sie es wirklich? Fragen, die quälen und ohne Antwort bleiben.

Nun lebt Hendrik in einer anderen Stadt und besucht eine neue Schule. Schon bald lernt er Laura kennen, welche dieselbe Klasse besucht. Hendrik mag Laura. Aber es wäre besser, wenn er ihr nicht begegnet wäre. Ihre Art, mit anderen umzugehen, ihre Art zu lachen, ihre Art zu leben, fast alles erinnert ihn an Lisa. An seine unvergessliche Lisa, welche ihm den grössten erdenklichen Schmerz zugefügt hatte. Hendrik kommt auf schlimme Gedanken.

Laura erhält in der darauf folgenden Zeit von einem anonymen Absender seltsame E-Mails. Sie fühlt sich bedroht, doch sie würde niemals dahinter kommen, dass Hendrik etwas damit zu tun haben könnte. Schliesslich mag Laura den Burschen.

Hendrik hat ein weiteres Problem: Er liebt das Theaterspielen über alles. Doch den Schauspiellehrer, Herrn Lechner, den alle mögen, kann er nicht ausstehen. Von der ersten Begegnung an findet er ihn unsympathisch. Und das nur, weil Lechner ihn an Wailand erinnert? Wailand, so vermutet Hendrik, ist an Lisas Tod schuld. Die dunklen Gedanken, die Rachegefühle richten sich fast zwangsläufig auf den ahnungslosen Lehrer.

Die Hoffnung, Hendrik würde sich in einer anderen Stadt gut einleben und von vorne beginnen können, erweist sich als unbegründet. Im Gegenteil: hier wird er noch einmal mit all den schmerzhaften Dingen konfrontiert, von denen er geglaubt hatte, sie durch die Ablenkung und die neue Umgebung besser verarbeiten zu können. Hendrik findet die gesuchte Ruhe und sein Glück nicht, sondern wird auf dramatische Weise herausgefordert.

Soll er etwa auf ähnliche Weise wie Lisa handeln, die das Leben auch nicht mehr ausgehalten hatte? Oder sollte er vielmehr…? Zunächst verwirft er den immer wieder aufkommenden, bösen Gedanken. Dann geschieht ein Unfall. Herr Lechner ist daran beteiligt. Und Hendrik steht endgültig vor der Frage, ob er es schafft, mit seiner Vergangenheit leben zu lernen.

Die Autorin Helene Kynast, in Lodz/Polen geboren, wuchs in einem kleinen Dorf im Sauerland auf. Nach einer kaufmännischen Ausbildung, die sie "ohne Lust und Liebe" absolvierte, zog sie in den Süden. In Freiburg wurde sie Arzthelferin, aber auch das war nicht der richtige Beruf für sie. Sie reiste weiter in den hohen Norden, nach Island. Zwei Jahre verbrachte sie auf einer Farm, dann ging es zurück auf den Kontinent. Nach Paris. Und von da aus war es nicht weit zurück nach Deutschland. In Düsseldorf studierte sie Germanistik und Philosophie. Heute lebt Helene Kynast mit ihrem Mann in Bremen. Für ihren Erstling "Alles Bolero" erhielt sie 1997 den Oldenburger Jugendbuchpreis.

Das Buch hat wohl einen angenehm flüssigen Schreibstil, die Erzählung bleibt allerdings an manchen Stellen etwas verschwommen und unklar. Viele Stationen aus Hendriks Vorgeschichte werden nur stichwortartig erwähnt, und den genauen Ablauf der Geschehnisse muss man sich als Leser oft selbst zusammenstellen. Man hofft immer darauf, mehr und Genaueres zu erfahren, vieles bleibt dann allerdings doch der eigenen Fantasie überlassen. Spannend ist der Roman aber allemal, und hat man einmal mit dem Lesen begonnen, legt man das Buch nicht so schnell wieder zur Seite.

Pädagogisch wertvoll wird die Geschichte durch das unangenehme Thema "Tabuisierung": Es ist höchst interessant zu erleben, wie Hendrik und seine Eltern krampfhaft vermeiden, offen über die Probleme zu reden und die Sache damit noch viel schlimmer machen.


von Sharon Eva Kesper - 28. Oktober 2006
Das Mädchen ohne Gesicht
Helene Kynast
Das Mädchen ohne Gesicht

Thienemann 2005
188 Seiten, gebunden
EAN 978-3522177047