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Eliot Pattison: Das Auge von Tibet

Die Kruste des Lebens

Da sitzt man mit den Lesenotizen in der chinesischen Kladde, die chinesische Thermoskanne mit dem Tee neben sich, noch ganz benommen von der Lektüre des auf Deutsch erschienenen "Das Auge von Tibet" von Eliot Pattison vor seinem Laptop, um den Roman zu rezensieren. Fast verschluckt man sich bei dem Gedanken an die chinesischen Produkte mit denen man doch indirekt China unterstützt. Das mag lächerlich sein, zeigt jedoch sehr deutlich die Wirkung die der Amerikaner Pattison mit seinem Roman erzielt. Es ist ihm gelungen, ein Anliegen zu transportieren. Denn dieser Roman ist nur vordergründig ein Krimi, im Grunde genommen handelt es sich um einen politischen Roman, einen Roman über das neue China und den Umgang mit den Minderheiten im Land. Merkwürdig aktuell wird der Text mit einem kürzlich erschienen Zeitungsbericht des Berliner Tagesspiegels, in dem über einen polizeilichen Einsatz und die Willkür der Beamten gegen einen tibetischen Lama in Berlin berichtet wird.

Auf der Handlungsebene von "Das Auge von Tibet" spielt, wie schon im ersten Roman des Autors, der ehemalige Ermittler Shan - früherer Regierungsbeamter, dann Häftling im Gulag - die tragende Rolle. Obwohl, genaugenommen, muss der Hauptprotagonist sich seine Rolle mit Tibet teilen. Denn die religiösen Traditionen, die Lamas und ihre Überlieferungen sind auch für den Han-Chinesen Shan zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, er wurde sozusagen "tibetisiert". Shan hält sich in einem tibetischen Kloster auf, offiziell wurde er nie aus dem Lager entlassen und darf sich nur im Bezirk Lhadrung aufhalten, weshalb er keine Papiere besitzt. Als nun die Mönche des Klosters von der Ermordung einer Lehrerin und dem Verschwinden eines Lamas außerhalb Lhadrungs erfahren, erhält Shan die Aufgabe zu ermitteln, was geschehen ist. Er macht sich gemeinsam mit einem Widerstandskämpfer, einem alten Tibeter und dem Mönch Gendun auf den Weg in den Norden. Shan kann nur verdeckt ermitteln, da die Gruppe Lhadrung verlassen muss. Er wird damit zu einem Illegalen. Die Lehrerin Lau, zuständig für eine Gruppe Waisenkinder, soll ertrunken sein, was sich bald als falsch erweist. Spätestens, nachdem Shan von dem gewaltsamen Tod zweier Schüler Laus erfährt, kann er nicht mehr locker lassen, er muss, auch wenn er manchmal nicht weiter weiß, die Wahrheit finden, denn er befürchtet, dass noch mehr Waisenkinder Opfer des oder der Mörder werden könnten: "Etwas hatte die empfindliche Balance gestört, und nun starben Menschen deswegen."

Wir dürfen uns von der Öffnung Chinas, von dem chinesischen Kapitalismus sozialistischer Prägung, nicht täuschen und blenden lassen, sagt und warnt uns der Autor mit diesem Roman, denn noch ist China weit davon entfernt eine freie Gesellschaft zu sein. Religionsausübung ist noch immer ein Grund für Verhaftungen (wie jüngst nur Stunden nach der Abreise des amerikanischen Präsidenten), Tibet noch immer nicht in Unabhängigkeit, der Dalai Lama ins Exil gezwungen. Aller Öffnung zum Trotz, führen die Minderheiten ein klägliches Leben um ihre ethnische Identität. Warum nur tun sich Regierungen so schwer mit der Bewahrung der Traditionen durch ihre ethnischen Mitbürger? Da ist China ja kein Einzelfall, müssen sich auch westliche Kulturen an die eigene Nase fassen, doch die programmatische und gewalttätige Unterdrückung und Ausrottung, die gilt für die Volksrepublik China unter dem Mantel nur dem Volk zu dienen. Shans Erkenntnis jedenfalls ist, "daß eine Arbeit im Dienst der Regierung nicht immer dasselbe ist wie eine Arbeit im Dienst des Volkes".

Dem Roman gelingt es, die vielen existierenden Welten, ob mythologisch oder politisch, zu vermitteln: "In gewisser Weise glich die gesamte Volksrepublik China einem bunt zusammengewürfelten Stück Stoff, einem Flickwerk aus ineinander verwobenen Menschen, Kulturen und Historien, die durch Zwang und Doktrin notgedrungen ein Ganzes bildeten, wußte Shan." Der Roman ist keine Anklage an ein sozialistisches System an sich, ist nicht geprägt von einer Kommunistenphobie. Pattison erkennt sehr wohl, dass auch der Kapitalismus US-amerikanischer Prägung sich von den Menschen selbst entfernt hat, die Menschen über ihren Besitz definiert. "Niemand ist verantwortlich. Die Leute lehnen sich einfach zurück und lassen das Übel geschehen. Wälder werden abgeholzt. Kulturen werden zerstört, Traditionen verworfen, weil sie nicht Internetkompatibel sind. Kinder wachsen in dem Glauben auf, das Fernsehen sei überlebensnotwendig. All ihre Wertbegriffe entstammen der Werbung." Das amerikanische Paar, welches sich aus dieser Erkenntnis heraus der Verantwortung stellt, muss bitter mit dem Tod des Sohnes dafür büßen. Wären sie in den Staaten geblieben, hätten sich der Masse angeschlossen, wäre ihr Sohn um wundervolle Erfahrungen im Leben mit den Nomaden ärmer, doch am Leben. Nach tibetischer Sicht ist dies aber unwichtig, denn Wahrhaftigkeit stellt ein weit höheres Ziel als Lebensalter dar. Überhaupt können Pattisons Schilderungen tibetischer Traditionen ein wunderbarer Ansatz zur Beschäftigung mit diesen sein, wie z.B. die Übung "Kruste des Lebens": um zur wirklichen Oberfläche der Steine vorzudringen, ihre Schönheit unter der Schmutzkruste zu erkennen, werden sie mit Wasser abgewaschen.

Eliot Pattison hat eine Ausbildung zum Rechtsanwalt und verdiente sein Geld als Berater für die Wirtschaft. Daneben publizierte er im journalistischen Bereich und schrieb bzw war Herausgeber von Büchern, die sich mit wirtschaftlichen und juristischen Themen beschäftigten. Er hielt sich wiederholt als Reisender in China auf. Pattison hat nicht nur vor Ort Eindrücke gesammelt, sondern sich auch mit dem Tibet vor der Besetzung durch China beschäftigt. Man spürt, der Autor hat seine Aufgabe ernst genommen und deshalb glaubt man ihm auch das Anliegen des Romans.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass man mit dem "Auge von Tibet" ein dickes Buch vor sich hat, es sind ohne die Worterläuterungen und die Schlussbemerkung des Verfassers 691 Seiten zu bewältigen. Aber es sind 691 traditionell erzählte Seiten, die sich lohnen, auf denen man angeregt wird, auch über den eigenen Tellerrand zu blicken, sich eines wirklich magischen Landes zu erinnern, eines Landes, dessen Menschen Glück und Zufriedenheit ausstrahlen, trotz all des Leids, welches sie und ihr Land erfahren haben. Wenn Pattison die Gesichter der tibetischen Mönche beschreibt, strömt deren Ruhe und Ausgeglichenheit förmlich aus den Seiten heraus und man sieht die fröhlichen Gesichter vor sich. Der Klappentext übertreibt in keinster Weise, wenn es da heißt, Eliot Pattison habe die Seele Tibets eingefangen, denn es gelingt ihm, tibetische Mythologie und Lebenseinstellung darzustellen. In der Schlussbemerkung erfährt der Leser, nicht nur Figuren, sondern auch viele Schauplätze der Erzählung sind fiktiv und bekommt weiterführende Literaturhinweise.


von Eva Magin-Pelich - 19. Oktober 2003
Das Auge von Tibet
Eliot Pattison
Das Auge von Tibet

Rütten und Loening 2002
697 Seiten, gebunden
EAN 978-3352005848