Ein Mann verschwindet und taucht nicht mehr auf
Ist es ein Roman? Ist es ein Tatsachenbericht? Weder noch: "Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre" hat Oliver Hilmes ausgegraben und sich damit auf Neuland begeben. Er hat Archive durchforstet, Akten ausgewertet, alles in einen epochalen Kontext gebracht und zu einer glaubhaften Story geformt. Hilmes ist Historiker, seine Recherchen sind wasserdicht, alles lässt sich überprüfen.
Hilmes ist auch ein großartiger Erzähler. Er weiß, wie man einen Spannungsbogen aufbaut, den Leser gleich zu Beginn ins Geschehen eintauchen lässt und bis ans Ende fesselt. Immer neue Informationen tauchen auf, auch immer neue Informanten, ohne dass es nur an einer einzigen Stelle verwirrend wird. Der ständige Perspektivwechsel verleitet dazu, noch ein paar Seiten weiter zu lesen und wieder welche, vergleichbar einem guten Thriller, und bald ist Das Verschwinden des Dr. Mühe in einem Rutsch gelesen. Alles prima also?
Nicht ganz. Das Buch hat auch Schwächen. Eine ist dem Umstand geschuldet, dass der Autor einiges hinzuerfinden musste, "aus dramaturgischen Gründen", wie er in einer kurzen Notiz voranstellt. Das ist nachvollziehbar. Akten sind eine trockene Angelegenheit. Kaum jemand würde ein Exemplar zur Lektüre erwerben, gäbe es dieses in einem Laden zu kaufen. Der Stoff muss daher leserfreundlich aufbereitet werden. Hilmes hat sich im Wesentlichen zweier Stilmittel bedient: des Dialogs und der Reportage. Dialoge bringen die Handlung voran, die Reportageform verdichtet sie, beides erzeugt im Leser das Gefühl unmittelbaren Erlebens. Insofern funktioniert das Konzept. Es geht auch nicht auf Kosten der Glaubwürdigkeit, zumal Hilmes ausdrücklich darauf hinweist, dass er manches erdacht hat. Schließlich ist die Geschichte bis in ihre Details plausibel.
Im historischen Präsens schildert Hilmes, wie ein Kreuzberger Arzt vom einen auf den anderen Tag verschwindet, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Nur sein leeres Auto wird gefunden, am Ufer des südlich der Hauptstadt gelegenen Sacrower Sees, wo Dr. Erich Mühe kurz zuvor in einem Restaurant eingekehrt war. Kommissar Keller verhört mit seinem Assistenten Schneider Verwandte, Kollegen, Nachbarn, Angestellte, Weggefährten des Vermissten. Es ergeben sich Verdachtsmomente, aber keine wirklich heiße Spur. Mühe führte illegal Abtreibungen durch, verdiente viel Geld und machte sich Feinde. Doch hat niemand von ihnen, das kann Keller bald ausschließen, den Arzt umgebracht. Da außerdem keine Leiche gefunden wird, landet der Fall bei den Akten.
Nur Mühes Schwester bleibt am Ball. Ihr hatte Keller in die Hand versprochen (Kellers fiktiver Kommissarkollege Matthäi aus Dürrenmatts Das Versprechen lässt grüßen), den Fall aufzuklären, wurde daran letztlich jedoch von seinen Vorgesetzten gehindert. Schließlich reist Margarete Hertel – Keller ist längst pensioniert – nach Barcelona, wohin sich Mühe nach Meinung des Kommissars abgesetzt haben könnte. Tatsächlich findet sie dort eine heiße Spur, doch den Fall lösen kann auch sie nicht.
Dem Autor ist es nicht allein um die Rekonstruktion eines historischen Kriminalfalls gelegen. Während Hilmes in die Geschichte eintaucht, zeichnet er gleichzeitig ein Porträt Berlins der Jahre 1932 und 1935. Was sich in der Endphase der Weimarer Republik abzeichnete, ist eingetreten: Die Nationalsozialisten sind an der Macht, Parteigenossen und Unterstützer haben Karriere gemacht, auch vorher notorisch Zukurzgekommene und Trittbrettfahrer. Beispielsweise Hugo Rasch, ein verkannter Komponist: Durch braune Protektion übernimmt der zuvor praktisch Arbeitslose die Leitung der Reichsmusikkammer. Auch für Wolf-Heinrich von Helldorf zahlt sich die frühe Parteimitgliedschaft aus, er bringt es bis zum Polizeipräsidenten von Berlin. In beiden Fällen gelingt es Hilmes auf wenigen Seiten, diese besonders widerlichen Exemplare des Emporkömmlings überzeugend darzustellen. Nicht den Nazis anschließen hingegen mag sich Keller. Konservativ-national eingestellt und bis 1932 vermutlich ein Parteigänger Franz von Papens, macht er dessen Schwenk – zunächst Austritt aus dem Zentrum, später Eintritt in die NSDAP – nicht mit. In der Masse der Opportunisten, auch in den Reihen der Polizei, bleibt der Kommissar einer der Aufrechten.
Hilmes hat seine Darstellung durchaus vielschichtig angelegt. Was stört, ist ihre Trivialität. Zu hölzern sind die Dialoge, zu fad die Schilderungen des Berliner Alltags. Eine Szene spielt vor dem Kaufhaus C&A: "Einige Damen diskutieren lebhaft die Vor- und Nachteile der aktuellen Entwürfe. 'Was sagt man dazu?'; echauffiert sich eine Passantin. 'Wer soll das denn tragen? Da muss man ja Mannequin sein, um da reinzupassen.' Eine andere Frau lacht: 'Reinpassen tue ich da auch nicht. Und leisten kann ich mir das erst recht nicht. Zu ihrem Mann gewandt, sagt sie: 'Nicht wahr, Hermann … Muttern bleibt bei ihre Kittelschürze.'" So klischeehaft geht es zu, wenn Hilmes Gespräche ersinnt. Der Kommissar nennt seine Ehefrau nur 'Muttchen', vom Assistent wird er beständig als 'Chef' tituliert, der Wirt des Ausflugslokals am Sacrower See renommiert damit, dass die Wiener Würstchen "meine Frau selbst gemacht" hat: Dialoge, ähnlich originell wie Redebeiträge auf einem chinesischen Volkskongress.
Schade, Hilmes hätte mehr auf seine Geschichte vertrauen sollen, selbst wenn die dünne Faktenlage das ohnehin schmale Buch um die Hälfte reduziert hätte. Zwar trägt die Handlung bis zum Schluss, "höchst raffiniert erzählt", wie der Buchumschlag es weismachen will, ist sie nicht.
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Risse