Martin Walser: Das Traumbuch

Walsers Traumpfade

Träume laden zu Deutungen ein – und die traumhaften Spaziergänge des Schriftstellers Martin Walser zeigen besondere Streifzüge nicht nur durch Wasserburg am Bodensee, sondern auch episodische, kuriose und unwirkliche Begegnungen mit Sigmund Freud, dem Ahnherrn der Exegese des Traumes, mit einem ganz anderen Thomas Mann oder auch mit dem Philosophen Jürgen Habermas. Aus dem Reichtum der Impressionen, die Walser in den letzten 25 Jahren gesammelt hat, sinnreich ausgewählt, werden nun kleine Begebnisse vorgestellt, die der Schriftsteller im Mantel der Nacht erlebt und literarisch geformt hat, versehen mit farbenprächtigen Illustrationen von Cornelia Schleime.

Martin Walser möchte von seinen Träumen erzählen und auf Interpretationen verzichten.  Gelingt das? Lesend beginnen wir zu deuten, auch wenn wir das gar nicht wollen. Doch an den Willen müssen wir auch nicht glauben. Wir dürfen uns von Träumen führen und auch verführen lassen. Oder nicht? Die Identität des Träumenden etwa mutet geheimnisvoll und rätselhaft an: "Ich bin ein anderer. Ich will in mein Auto, da sitz ich schon drin. Und der, der da drin sitzt, bin ich. Aber ich sehe nicht aus, wie ich mich kenne. Ich sehe wirklich anders aus. Das wirkt auf mich zurück." Beobachtungen wie diese wirken vertraut. Im Traum finden Begegnungen mit dem eigenen Selbst statt, aber das Selbst, das wir sehen, entspricht nicht der Selbstwahrnehmung. Es wirkt traumhaft verfremdet auf uns. Die Zeit fließt auch anders dahin. Ich bin ein anderer – und doch derselbe. Erkenne ich mich wieder? Walser schreibt über diesen Vorgang der Wahrnehmung, vorsichtig, behutsam und tastend. Die Logik des Traumes ist sehr besonders, so ist auch das träumende Ich vertraut und nicht vertraut. 

Nicht verwunderlich ist es auch, dass Martin Walser, der als "Thomas-Mann-Gegner" gilt, einen anderen Thomas Mann in dessen Arbeitszimmer antrifft. Er wirkt wie ein "zäher, alter Naturbursche, sehr überraschend und sofort sympathisch". Walser denkt: "Ich weiß ihn durchaus zu schätzen. Das soll er wissen." Doch die Traumgestalt bleibt skeptisch und entschwindet, nur dessen Sohn sucht Walsers Nähe – "ein hoffnungsloser, sofort krankhaft wirkender Sohn, ein Schwätzer". Verraten die Träume etwas über das Innen-, vielleicht das Seelenleben? Der Schriftsteller möchte bloß erzählen. Eine psychoanalytische Traumdeutung bleibt ihm fremd: "Meine Träume müssen nicht gedeutet oder gar nach den billigsten Schlüssen übersetzt werden, sie sind mir lieb und wert, so wie sie vorkommen. Sie sind mir deutlich genug." Oder hat Martin Walser auch das nur geträumt? Könnten nicht auch wir davon träumen, dass wir die Deutung der Träume den Traumdeutern überlassen, ohne uns deren Erklärungen zu eigen zu machen? Im "Gespräch mit Sigmund Freud" könnte ein Austausch darüber stattfinden. Aber selbst im Traum gelingt dies nicht, "weil er immer schon wusste, was man sagen würde". Es ist, als nähme dieser Freud eine Person wahr, die ganz und gar bekannt sei, "mit der es sich dann nicht mehr lohnt, ein Gespräch zu führen". 

Martin Walser berichtet von Jürgen Habermas, mit dem er im Traum nach oben fliegt: "Wir klammern uns aneinander, umarmen einander." Sie werden emporgetragen und fallen dann nach unten, kommen "erschüttert, aber heil auf dem Boden" an: "Wir umarmen einander noch fest." Lesend mögen wir schmunzeln oder darüber nachsinnen. Vielleicht erweist sich hier jeder Versuch einer Deutung als Ohnmachtserklärung. Habermas' Philosophie lässt sich wohl schwerlich umarmen – metaphorisch gesprochen –, und ob der Schriftsteller und der Denker in einer Bewegung in metaphysische Sphären entschweben wollten? Oder einfach gen Himmel gezogen wurden? Das scheint auch zweifelhaft zu sein. So bleibt diese Umarmung zwischen dem Schriftsteller und dem Philosophen im Traum eine wunderliche Begebenheit, von der berichtet werden kann – wie auch von dem "Philosophenkongress", auf dem eine zweite, ganz andere traumhafte Begegnung stattfindet. Martin Walser soll dort vortragen, und Habermas "nahm keine Notiz davon, dass ich an ihm vorbeiging": "Drinnen fehlt mir das Manuskript."

Walser notiert zudem: "Den Träumen kann man trauen, mehr als allem sonst." Verhält es sich so? Offenbart sich im Traum eine verborgene Wirklichkeit? Oder verlockt der lustvolle Reichtum der Nacht, der in der schwebenden Welt des Traumes gegenwärtig wird? Dass ein Literat den Träumen trauen möchte, sei ihm zugestanden. Sigmund Freud hätte vielleicht nicht widersprochen. Martin Walser erzählt von traumhaft sich zeigenden Wirklichkeiten: "Der Traum hat keine eigene Ebene. Aus allen Ebenen bedient er sich. Das, was so übersetzenswert erscheint, das, was man nicht direkt zu verstehen glaubt, das ist oft aus allen Schichten. Und es ist nie genug Licht in den Träumen. Die Träume sind nicht besser erleuchtet als das 18. und 19. Jahrhundert." Diese Bemerkung wirkt auf gewisse Weise realistisch. Die Träume zeigen eine eigene Welt, oft nicht weniger disharmonisch als jene Wirklichkeit, die wir tagtäglich erleben, manchmal aber wundersam anders geordnet und gestaltet. Martin Walser bleibt trotz alledem bei der Darstellung und Beschreibung seiner Traumwelten ganz er selbst – vor allem, weil er seinen Wahrnehmungen vertraut und sich traut, diese mitzuteilen. Der 95-jährige Mystiker vom Bodensee schenkt seinen Leserinnen und Lesern die Gelegenheit, daran teilzuhaben und öffnet damit Wege in eine traumhafte Weite des Erlebens. Dieses Traumbuch erweitert den Kosmos seiner Werke noch einmal und zeigt uns erneut, wie dankbar wir für Martin Walsers literarische Kostbarkeiten sein dürfen.

Das Traumbuch
Cornelia Schleime (Illustration)
Das Traumbuch
Postkarten aus dem Schlaf
144 Seiten, gebunden
Rowohlt 2022
EAN 978-3498003197

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