Dirk Westerkamp: Das schweigende Tier

Bewusstes Schweigen – Neue Einsichten zur Philosophischen Anthropologie

Über Sprache haben viele Philosophen nachgedacht, von Wilhelm von Humboldt bis zu Ernst Cassirer und Ludwig Wittgenstein. Noch 1945 schreibt Cassirer über das "animal symbolicum". Er versteht den Menschen als symbolbildendes Lebewesen. Sprache gilt dem Kulturphilosophen als Weg zum Menschen. Die symbolische Form der Sprache bildet das vorzügliche Medium, das dem sich selbst rätselhaften Wesen über sich und die Welt Aufschluss bietet. Viele Philosophen seiner Zeit unterschieden Tier und Mensch in Bezug auf die Sprachbegabung und Sprachfähigkeit. Diese Gewissheit, in der Sprache das spezifische Menschliche zu sehen, ist durch die Naturwissenschaften und Verhaltensforschung erschüttert worden. Kommunikationsformen wurden bei vielen Spezies festgestellt, die mehr als nur graduelle Ähnlichkeiten zum Menschen aufweisen. Wir denken heute besonders an Schimpansen, Elefanten und Delphine. Insbesondere die niederländische Philosophin Eva Meijer hat in "Die Sprachen der Tiere" die tiefe Verwandtschaft zu einigen tierischen Mitbewohnern auf dem Planeten Erde aufgezeigt. Nun nimmt Dirk Westerkamp in seinem neuen Buch "Das schweigende Tier" Gedanken und Reflexionen auf, in denen der Mensch als das Lebewesen vorgestellt wird, das absichtsvoll und wissend verstummen kann. Öffnen sich mit diesen Studien neue Wege zum Verständnis des Menschen?

Der Mensch ist zweifellos ein besonderes, manchmal auch besonders anstrengendes Lebewesen. Das lehrt uns die alltägliche Erfahrung: Manche schweigen beredet, andere scheinen außerstande zu sein, endlich still zu werden. Wo die Mitteilungsfreude zu einer akustischen Belastung, ja Belästigung wird, scheint die Haltung des Schweigens ratsam zu sein. Westerkamp schreibt zu Beginn seiner Darlegungen: "Der Mensch ist nicht das einzige Tier, das spricht." Er zeichnet sich aber durch eine besonders "verschachtelte Form der Diskursivität" aus. Besonders Philosophen, auch andere Geisteswissenschaftler, sind mit der hohen Kunst des Schachtelsatzes vertraut und vergessen, dass selbst geneigte Leser sich nichts oft sehnlicher wünschen als einen Punkt als Satzendzeichen. Der Philosoph Westerkamp widmet sich aber nicht einer Technik zur Begrenzung der Erzählfreude, sondern benennt die Eigenheiten der menschlichen Sprache: "Wir sprechen nicht nur, sondern haben eine Sprache; wir gebrauchen sie nicht nur, sondern verändern sie nach selbstgewählten Regeln." Kennzeichen der menschlichen Kommunikation sei das "willkürliche Nichtsprechen": "Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht spricht." Kann sich aber ein sprachfähiges Tier auch bewusst der Kommunikation entziehen? Westerkamp denkt an ein begründetes Schweigen, an die "intentionale Negation des Sprechens": "Wir wissen bislang von keiner anderen Spezies, die nicht nur unwillkürlich verstummt, sondern auch bewusst schweigt." Diese Mutmaßung könnte aber entkräftet werden, wenn zu den Formen des Sprechens andere Bereiche der Expression hinzuträten oder wenn die Sprechweigerung als Schweigen oder Verstummen nachgewiesen werden könnte. Der Autor erweitert seine Überlegungen: "Sich dem Sprechen intentional zu verweigern, um etwas Unsagbares zu zeigen, impliziert einen Akt der Negation. Verneinung aber ist unhintergehbar sprachabhängig. … Negation indiziert eine Weite des gedanklichen Horizontes, die mit der Fähigkeit und Freiheit zusammenhängt, Anderes: Kontrafaktisches, Negativ-Existentiales, Unmögliches, Widersprüchliches zu denken. … Bewusst nicht zu sprechen, schließt eine Reflexion über die Gründe des Schweigens ein; es impliziert die intentionale Negation des Sprechens. Negation ist entscheidendes Moment sowohl des Wahr-Nehmens als auch des Vorausschauens und Planens." Nun mögen wir denken: Nichtmenschliche Tiere sind bekanntlich weder Philosophen noch – theologisch gesprochen – Sünder, weil sie weder Sinnwidriges erwägen noch sich, in Ermangelung der Freiheit, von Gott abwenden können. Was Westerkamp hier aber philosophisch unter dem Begriff Freiheit versteht, erläutert er nicht. Der Mensch vermag, bedingt durch inwendige Okkupationen wie Pathologien, Unmögliches zu denken oder sich auszudenken, also in psychischen Zuständen, in denen er gerade nicht in Freiheit wählen und entscheiden kann. Treffend zwar benennt Westerkamp sodann Vorkommnisse, dass Gesprächspartner falsche Begriffe oder Namen verwenden, aber dass trotzdem verständlich gemacht wird, was oder wer gemeint ist. Die "gelingende Kommunikation" hängt also nicht von situativ bedingten Unzulänglichkeiten ab. Aber ist diese Form der Verständigung spezifisch menschlich?

Dirk Westerkamp benennt einige Spezies – wie Seelöwen oder Elefanten –, denen "Sprecherwerb" möglich sei, die also das "Sprechen einlernen" können. Diese Aneignung sei aber ein Unterschied zum "natal mitgebrachten Sprachbesitz". Der Mensch sei zu "Bedeutungsfusionen" und "Bedeutungssynthesen" imstande. Er kann also Sprachformen und Handlungen verknüpfen: "Begriffssynthesen bilden nicht Faktizität ab. Im Gegenteil: Ihre Fusionskraft scheint desto kühner, je kontrafaktischer ihre Inferenzen sind." Zudem agiere der Mensch als "homo silens", als schweigendes Tier. Das Schweigen setze "sprachabhängige Gedanken voraus". Auch hier ließe sich einwenden – in der Regel schon, aber nicht unbedingt, denn dem Schweigen eines religiösen Mystikers etwa muss keine philosophische oder theologische Reflexion vorausgehen. Es ist eine Form der inneren Erfahrung, die in unterschiedlichen Formen vorstellbar ist und etwa als Leer-Werden auch bezeichnet werden kann. Von Papst Johannes Paul II. etwa wird berichtet, dass er sehr häufig in mystischer Versenkung ausgestreckt auf dem Boden in seiner Privatkapelle lag. Solche Dimensionen bleiben in Westerkamps Buch unberücksichtigt. Der Mensch schweige symbolisch, schreibt er: "Schweigen markiert die innere Grenze der Sprache." Als "bewusste Stille" sei "jedes Schweigen immer auch auf sich selbst als ein Nicht-Sagen" bezogen: "Das ergibt sich schon aus der wechselseitigen Abhängigkeit von Sprechen und Schweigen. Das Nicht-Sagen des Schweigens aber ist alles andere als nichtssagend, sondern bedeutungsvoll." Das könnte so sein, im Fall des Mystikers aber oder des Beters ist auch ein außerreflexives Schweigen denkbar und möglich. Westerkamp hingegen denkt, das Schweigen siedle sich im "Glutkern der Sprache" an. Abschließend spricht der Philosoph davon, es sei möglich, sich dem "Sprachzwang" zu verweigern: "Aufs Sprechen zu verzichten ist eine souveräne Handlung; … Schweigen ist eine zuhöchst symbolische Tätigkeit. … Wir nehmen uns die Freiheit, auch nicht sprechen zu müssen."

Dirk Westerkamps anspruchsvolles und anregendes Buch bewegt sich in einer philosophischen Sphäre. Sein Nachdenken über Sprache und Schweigen bezieht sich auf die Welt des Menschen. So wenig aber wie wir uns in einen anderen Menschen wirklich hineinversetzen und diesen von innen her verstehen können, so schauen uns auch manche Tiere schweigend an. Wir können mit ihnen kommunizieren, und wir können einander in unseren je eigenen Grenzen zudem begrenzt verstehen. Ja, "explizites Schweigen", wie Westerkamp ausführt, ist eine beschreibbare Realität. Aber das Schweigen könnte weit über eine bloß menschliche Form des absichtsvollen Nichtsprechens hinausgehen und weiter reichen, als kluge Philosophen sich vorstellen können.

Das schweigende Tier
Das schweigende Tier
Sprachphilosophie und Ethologie
143 Seiten, broschiert
Meiner 2019
EAN 978-3787337002

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