Autobiografie des Glaubens
Was mir Emmanuel Carrères Schreiben so sympathisch und wichtig macht, ist seine ernsthafte und aufrichtige Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Nicht nur, dass er sich Fragen stellt, die sich die meisten gar nie stellen (etwa: Woran glauben Christen heutzutage wirklich?), sondern sie auch zu beantworten sucht. Und dann den Leser daran teilhaben lässt, wie er vorgegangen ist, was für Zweifel und Schwierigkeiten ihn dabei begleitet haben, wie er um Erkenntnis, ja, um Wahrheit ringt.
"Von welchem Standpunkt aus sprichst du?", wurde man in den politischen Diskussionen der 68er gefragt, eine Frage, die Carrère nach wie vor relevant findet. "Ein Gedanke berührt mich eher, wenn er von einer konkreten Stimme getragen wird, wenn er von einem bestimmten Menschen ausgeht und ich weiss, welchen Weg er sich in diesem Menschen gebahnt hat." Das charakterisiert auch sein eigenes, sehr persönliches Schreiben.
Carrère schreibt spannend, scharfsinnig, selbst-analytisch und ehrlich, ja man glaubt zu spüren, dass er in seinem tiefsten Inneren glaubt, dass die Wahrheit uns frei machen werde. Mühe hat er mit denen, die sich weniger ernsthaft bemühen als er selber: "... dieses bürgerliche, provinzielle, unhinterfragte Christentum der Apotheker und Notare, das ich gelernt habe, mit nachsichtiger Ironie zu betrachten, stösst mich plötzlich ab."
Sehr streng geht er vor allem mit sich selber um und ohne Selbst-Ironie würde er wohl auf der Stelle dem Wahnsinn anheimfallen. "Ich gehe für eine Woche im burgundischen Benediktinerkloster Pierre-Qui-Vire in Klausur. Vigil um 2 Uhr morgens, Laudes um 6, Frühstück um 7, Messe um 9, Yoga in meiner Zelle um 10, Johannes lesen und kommentieren um 11, Mittagessen um 13 Uhr, Waldspaziergang um 14 Uhr, Vesper um 18, Abendessen um 19, Komplet um 20, Schlafengehen um 21 Uhr. Als guter Zwangsneurotiker bin ich begeistert. Ich lasse nichts davon aus."
Sein Vorgehen (und sein Umgang mit sich selber) hat obsessive, ja manische Züge; von einem Extrem springt er ins nächste. Wenn das Desinteresse am Gebet sich breit macht, muss man nicht gerade dann beten, wie die Mystiker meinen?, fragt er sich. "Aber genau jetzt kommen mir selbst die Ratschläge der Mystiker wie Gehirnwäsche vor, und der Mut scheint mir genau darin zu bestehen, ihnen nicht mehr zu folgen, sondern mich stattdessen der Wirklichkeit zu stellen." Nein, das ist nicht Carrères Schussfolgerung, so fängt seine Beschäftigung mit Paulus an.
"Ich bin zu dem geworden, der zu werden ich so sehr befürchtet hatte. Ein Ungläubiger, ein Agnostiker ...", notiert er. Doch jetzt, "fünfzehn Jahre nachdem ich meine Hefte mit den Evangelien-Kommentaren in einen Karton gepackt hatte", macht er sich auf, sich "diese Texte, das heisst das Neue Testament, ein weiteres Mal anzusehen."
Die Geschichte von Paulus und Lukas, die er nachzeichnet, bringt er auch in Zusammenhang mit der heutigen Zeit und macht damit klar, dass das Geschilderte nicht einfach nur historisch, sondern ganz grundsätzlich von Bedeutung ist. "Er war nicht mehr derselbe, denn er war endlich sich selbst", die Carrère Paulus zuschreibt, ist die Art von Erlösung nach der wir uns zwar sehnen, doch gegen die wir uns aus Angst sträuben und die wir erst begreifen, wenn wir sie erfahren haben.
Die "kleine jüdische Sekte, die einmal das Christentum werden sollte", war imstande zu Handlungen anzustiften, "Handlungen - und nicht nur Worten - , die dem normalen menschlichen Verhalten zuwiderlaufen. Menschen sind nun mal so gestrickt, dass sie ihren Freunden Gutes wollen - und selbts für die Edelsten unter ihnen ist schon das keine Kleinigkeit - und ihren Feinden Böses. Sie sind lieber stark als schwach, lieber reich als arm, lieber gross als klein, lieber Herrscher als Beherrschte. So ist es eben, das ist normal, und niemand hat je behauptet, das sei schlecht. Weder die griechische Weisheitslehre noch die jüdische Frömmigkeit. Doch nun sind da Menschen, die nicht nur das Gegenteil davon behaupten, sondern es auch tun ...". Das ist revolutionär, ja, revolutionärer geht es kaum. Kein Wunder, wird es so selten praktiziert. Und natürlich wurde Paulus sowohl angefeindet als auch nicht ernst genommen.
"Das Reich Gottes" ist ein eindringliches, witziges und höchst lehrreiches Dokument der Selbsterkundung, das nicht zuletzt durch die breite Neugier des Autors beeindruckt und anregt, die von Philip K. Dick, Hare Krishna und Lucky Luke zum auch heute noch aktuellen Coaching des Seneca (der, wie viele Lehrer, offenbar nicht wirklich lebte, was er predigte) reicht.
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