Die Ära der Selbstauflösung
Ramona Raabe schildert in ihrem literarischen Debüt die Geschichte einer fiktiven Suchterkrankung. Über das quälende Leid der Protagonistin hinaus beschreibt Raabe dramatisch und einfühlsam die potenziellen Folgen unserer Selfie-Kultur.
Der Titel zeigt unmißverständlich, um was es in der Novelle "Das pathologische Leiden der Bella Jolie" geht, die in der nahen Zukunft spielt: Eine junge Frau, die Studentin Janina Ast, die sich selbst Bella Jolie nennt, leidet an einer psychischen Störung. An einem Zwang, der sie treibt und den sie bald nicht mehr steuern kann. Den Zwang, sich permanent selbst zu fotografieren. Immer öfter, jederzeit, an jedem Ort.
Das Verstörende daran: Je mehr sie sich abbildet, um so mehr gerät die Inszenierung zum eigentlichen Leben, zum alltäglichen Dasein. Das Selbst, das sie einstmals ausfüllte, verschwindet. Nicht mit einem lauten Knall, sondern langsam, leise, unauffällig. Zunächst. Denn mit der Zeit wirkt ihr Verhalten auch für die ihr nahestehenden Personen sonderbar. Allerdings viel zu spät, denn die tägliche Suche nach dem perfekten "Shot", der idealen Inszenierung per Smartphone, die wir heute als "Selfie" bezeichnen, ist mittlerweile so selbstverständlich geworden, daß es kaum jemandem auffällt, ob und wann die Suche nach dem perfekten Abbild zur Sucht mutiert, ja, die wie bei bekannten Suchtkrankheiten wie Alkoholismus oder Magersucht einen Menschen zum Kranken, zum Patienten macht. Ähnlich wie bei vielen Süchten zerstören die Patienten zunächst ihre berufliche Existenz, dann ihr soziales Umfeld, schließlich sich selbst. Je enger die Spirale, desto unerträglicher das Sein. Und stets verheißt die Erhöhung der Dosis den rettenden Ausweg. Doch am Ende dieses Mortal Coil steht stets der Tod, den auch die junge Bella Jolie, gerade 29 Jahre alt, in ihrer Selbstvergessenheit findet.
Die so genannte "pathologische Impulskontrollstörung", vulgo "Selfie-Sucht", findet in dieser Novelle ab dem Jahre 2024 ihre medizinische Anerkennung als Krankheit. Dokumentiert werden diese Fälle seit der steigenden Anzahl von Selfies, also seit dem Jahre 2010, als Smartphone-Kameras und leistungsfähigere Breitbandnetzte für omnipräsente Fertigung und Verbreitung von Fotos im Internet und Resonanz, sprich "Likes", auf diversen Social-Media-Plattformen sorgten. Kaum ein Tod wurde indes so eindringlich und minutiös dokumentiert wie die letzten Stunden der Bella Jolie.
Rückblickend erzählen ihre Freundinnen, Verwandten und Kollegen, wie sie die Verwandlung der Bella Jolie von einer attraktiven, lebensfrohen Frau hin zu einer scheuen, sich sukzessive isolierenden Person erlebten. Und wann sie das erst wahrnahmen. Bella Jolie wirkt bald müde, gequält, magert ab, weil sie vor lauter Selfie-Aktivität die Nahrungsaufnahme vergisst. Nicht verweigert wie eine Magersüchtige oder nicht annimmt wie eine Heroinabhängige, nein, schlicht vergißt. Sie verschwindet förmlich, wird zu einem Schatten ihrer selbst, bemerkt nicht, wie sehr ihre einstige Schönheit einer grauen Maske weicht, die ihr gesamtes Profil verschlingt wie eine Meduse. Bella Jolie fotografiert ihr Gesicht bald mehrere tausend Mal am Tag bis sie eines Tages, Ende November 2019, nicht mehr lebt.
Ihr Tod und ihr Leiden werden zu einer gesellschaftlichen Sensation. 2025 erscheint ihre Geschichte in einem umfangreichen Bildband, deren Herausgeberin, die Journalistin Margot Wilhelms, die Fragen stellt, welche wir uns auch heute jederzeit stellen würden:
Wer war diese Frau? Was trieb sie in den Wahn? Wieso schaffte sie den Sprung zurück ins normale Leben nicht mehr? Die Antworten möchte Margot Wilhelms von Wegbegleitern der Janina Ast/Bella Jolie erfahren. Wilhelms recherchiert: Vom Vermieter bis zum Freund hin zur Mutter versuchen die Menschen, die Bella Jolie in der einen oder anderen Weise nahe standen, eine Erklärung für ihr Leiden zu finden. Episodenhaft, im Stile längerer Interviewpassagen, die der Fragenden zwar als Antwort geliefert werden, jedoch auch als innerer Monolog oder Stream of consciousness funktionieren, zeigen die Menschen aus Bella Jolies Umfeld, wie sie die junge Frau und ihre Veränderung wahrnahmen.
Tatsächlich sind seit dem Erscheinen jenes Buches über Bella Jolie bereits 23 Jahre vergangen, als sich der 91-jährige Paul Wachter dieses Bandes annimmt und die Geschichte der Bella Jolie liest, die er uns dadurch stellvertretend mitteilt. Zu lange hat Wachter, der in einem medizinisch betreuten Seniorenheim lebt, das Lesen dieses Werkes aufgeschoben. Viel zu lange. Er kannte Margot Wilhelms, schätzt ihren Stil. Ganz im Gegensatz zu ihr und erst recht zu Bella Jolie verabscheut Wachter jedes Bild von sich selbst: Er wird geradezu zornig, wenn ihn die Krankenschwestern wiederholt – und vergeblich – darum bitten, doch endlich einmal für das Gruppenbild des Seniorenheims zu posieren. Wachter lehnt vehement ab. Er ist das Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Der Prä-Mobilfunk-Ära. Der Prä-Internet-Ära. Wachter ist die Brücke aus dem Gestern und dem Morgen, der uns, heute, im Jahre 2018 von beiden Enden der zeitlichen Parabel berichtet. Er ist für sein Alter noch erstaunlich fit, noch arbeiten seine Augen gut. Noch kann er lesen. Also liest er die Leidensgeschichte der Bella Jolie. Für uns. Heute.
"Das Leiden der Bella Jolie" ist sicherlich eines der herausragenden Bücher, das im Jahre 2018 im deutschsprachigen Raum erschienen ist: Autorin Ramona Raabe erzählt in ihrem literarischen Debüt auf eine gleichermaßen nahe wie distanzierte Weise, wie sich unsere aktuelle Kultur per "Selfie-Wahn" von einem Egozentrismus hin zu einer Abkapselung, ja einer Isolation entwickelt, die es in dieser Form in der jüngeren Zivilisationsgeschichte bislang noch nicht gab. Dabei gelingt es Raabe, einen leichten, pointierten Stil, zwischen Briefroman, Momentaufnahme und Reportage über 159 Seiten spannend und eindringlich zu halten. Die Illustrationen von Ailish Trimble kontrastieren zum virtuellen Thema des Buches und halten prägnante Momente in feinem Strich fest.
Dieses Werk eine Novelle zu nennen, wäre fast als kokett zu bezeichnen, denn Thema, Dramatik und Entwicklung dieses Buches stehen dem größeren Bruder der Novelle, dem Roman, in nichts nach – aber doch: Stil, Tiefe, innere Gedankenwelt und transparente Leichtigkeit dieser Leidensgeschichte erinnern mehr an die Novellen eines Stefan Zweig oder Rainer Maria Rilke, den die Autorin wohlbedacht mit seinem Gedicht "Narziss" in ihrem Buch zitiert. Selbstbetrachtung, Elegie und Beschäftigung mit dem Leid erinnern dabei nicht nur an die metaphorischen Reflexionen eines Marcel Proust oder eben Rilke, sondern auch an die jungen Autoren der Scapigliatura, jener literarischen Avantgarde, die das Fin de Siécle in Oberitalien, vor allem in Turin und Mailand in Siechtum und Dekadenz, zwischen technischem Fortschritt und Verfall der Gesundheit kritisch und lakonisch in vielen Publikationen festhielt.
Analog zur Ära des Fin de Siécle ab 1880 löst auch heute eine marktumwälzende Innovation ein Zeitalter jäh ab. Technologische Quantensprünge wie der Buchdruck, die Dampfmaschine oder der Telegraf wandeln Märkte und Gesellschaft, so wie seit einem Jahrzehnt eben das Smartphone. Und beenden soziale und berufliche Strukturen, die sich über Generationen gebildet und manifestiert haben, über Nacht. Die Disruption qua Fortschritt spiegelt sich in der Wahrnehmung des Selbst. Damals wie heute. Nur die Formen technischer Disruption ändern sich, nicht aber ihre Wirkung: Waren es ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der Fotografie, der elektrischen Versorgung und der maschinellen Produktion, die ganze Berufsgattungen erlöschen ließen, vom Kärrner bis zum Portraitmaler, so ist es heute der digitale Wandel und die Connected Mobility, in der wir jederzeit sendefähig und empfangsbereit sind. Mit ähnlichen Disruptionen in Beruf und Gesellschaft. So wie vor 150 Jahren die ersten Unfälle mit der Elektrizität im Haushalt passierten, entstehen heute Krankheitsbilder durch Selfie-Sucht und Online-Abhängigkeit. Und genau so wie die maschinelle Fertigung in Fabrikhallen eine neue gesellschaftliche Klasse, die des Arbeiters, entstehen ließ, definieren heute die Digital Natives Prototypen einer neuen Web Society.
Diese Dramatik, über die Folgen einer neuen, durchdigitalisierten Gesellschaftsform einerseits und der Sehnsucht nach der perfekten Welt, dem perfekten Moment und der Suche nach permanenter Selbstinszenierung andererseits, bedeutet nichts weniger als die Suche nach einer Standortbestimmung des gegenwärtigen kulturgeschichtlichen Status Quo. Diese Positionsaufnahme zeigt Ramona Raabe so gekonnt und nicht gekünstelt in ihrer fiktiven Geschichte über die Bella Jolie, daß es dem Leser zu glauben schwer fällt, es handele sich hierbei um ein Debüt. Rückblickend ist dieses eine der spannendsten und bemerkenswertesten Publikationen des Jahres 2018, weshalb ich es in diesem Portal auch als Highlight an die Retrospektive 2018 stelle. Mit Ungeduld erwarte ich die nächste Veröffentlichung aus dem Oeuvre der Literaturwissenschaftlerin Ramona Raabe, die unter anderem auch in Magazinen wie der "Zeit" Momentaufnahmen unserer Gegenwartskultur in einem größeren Kontext interpretiert. Ein Muß für Menschen, die in der Kunst des Fragen-stellens mindestens soviel Substanz empfinden wie in den Antworten, die drauf folgen mögen.
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