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Evelyne de la Chenelière: Das Meer, von fern

Die Sprachen der Liebe – Eine sorgfältig komponierte Beziehungsgeschichte

Von der Liebe wird so oft erzählt. Wir kennen viele Geschichten dazu, auch unsere eigenen, wissen von behutsamen, sensiblen Annäherungen, von Trennung nicht weniger. In die Lebens- und Liebesgeschichten sind komplexe Wahrnehmungsweisen eingezeichnet. Aus Goethes "Egmont" erinnern wir uns an Clärchens Lied: "Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein; Langen und bangen in schwebender Pein; Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt; Glücklich allein ist die Seele, die liebt." Verhält es sich wirklich so? Die skeptische Mutter rät nüchtern und geniert, auf das "Heiopopeio" zu verzichten. Oft aber sind die Worte, die wir wählen, um zu beschreiben, was wir von innen her empfinden, unzureichend, besonders in der Rückschau. Feierliche Wendungen finden Zuspruch, treffen aber selten die Regungen, die wir kaum in Worte fassen können. Überliefert ist eine Anekdote von Gustave Flaubert, der einen Tag lang über einen Glückwunsch grübelte. Der Romancier war darum gebeten worden. Er war bestrebt, eine angemessene Formulierung zu finden. Schließlich überreichte er den notierten Vorschlag, eine Wendung, mit der er nicht ganz unzufrieden war. Flaubert empfahl: "Alles Gute." Wer dies ernsthaft bedenkt, wird vielleicht vorsichtig, in Sachen Liebe allzu mitteilsam zu werden.

Die kanadische Schriftstellerin Evelyne de la Cheneliére, auch als Schauspielerin und Dramatikerin bekannt, ist im alten Europa, besonders im deutschen Sprachraum, noch ein Geheimtipp. Wir stehen erst am Anfang, ihre kostbaren Werke für uns zu entdecken. Sie erzählt in dem bereits 2011 verfassten, nunmehr ins Deutsche übersetzten Roman die Geschichte von Pierre und Nicole. In die zeitweilig symbiotische Beziehung ist eine tiefe Zuneigung eingezeichnet. Die Liebenden scheinen sich anzugleichen, so dass die beiden nur noch paarweise gedacht und erkannt werden, wenn auch schon Grauzonen, ja Schattierungen auftreten. Die Nuancen bleiben Außenstehenden – wir nennen solche Personen zumeist Bekannte und Freunde – unbemerkt. Sie wollen das Glück sehen oder das, was ihnen als Glück erscheint.

Wer sich philosophisch mit den Formen der Geschlechterliebe vertraut macht, erkennt etwa beim spröden Immanuel Kant, dass dieser vom wechselseitig ehelich geordneten Liebesgenuss spricht, der grundlegend in dem Rechtsgeschäft der Ehe verankert ist. Dies sei nämlich die "Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften", so legt der Philosoph in der "Metaphysik der Sitten" dar, betont aber zugleich, dass die Hingabe beidseitig erfolgen müsse. Auf ein bürgerlich geordnetes "strenges Glück" (Thomas Mann) scheint das Liebespaar "Pierre-und-Nicole" nicht aus zu sein. Von Nicole schwärmt Pierre doch sehr. Sie sei charmant, während er eher etwas linkisch wirkt, aber nicht unbeholfen. Nicht als feuriger Liebhaber tritt er auf, eher als ein sanfter, aber sehr bestimmt entflammter Verehrer, der durch die reizende Gegenwart von Nicole wie belebt, ja emotional entstaubt wirkt. Würde Pierre Nicole ganz von innen her verstehen, könnte er sie vielleicht nicht lieben – oder doch? Liebende entdecken einander, erfreuen sich, öffnen sich und entziehen sich. Nicole erscheint herzlich, befreit, ungeduldig und leidenschaftlich. Die Autorin berichtet nicht über enthemmte Ekstasen, sie zeigt die Gesichter der Liebenden, zeichnet diese behutsam nach, berichtet von ihren Geschichten und ihrem Weg zu zweit.

Pierre und Nicole sehen einander nicht nur an, sie sehen einander auch, aber nicht ganz. Nicoles Realismus zeigt sich, als sie über die Gesichter, die wir der Welt zeigen, nachdenkt – "niemand hat gemerkt, dass ich nicht mehr dasselbe Gesicht trug, was beweist, dass die Leute einander nicht ansehen, natürlich, sie sind ja zu sehr beschäftigt damit, nach ihrem eigenen Spiegelbild zu spähen, ganz gleich, wohin sie blicken, sie sehen nichts anderes". Doch Liebe ruft aus eingeübten Verhaltensweisen heraus. Von Erscheinungsbildern erzählt Nicole: "Wer sind wir wirklich füreinander? Schmeichelhafte Spiegel, die noch unsere kleinsten Makel verklären, bis sie es müde sind, uns schöner zu machen, als wir in Wahrheit sind, bis sie sich trüben oder zu Scherben zerspringen und unser Spiegelbild für immer zerstören. Und dann versucht man vergeblich, es wieder zusammenzusetzen, aber die Stücke geraten durcheinander und unser Gesicht wird nie mehr dasselbe sein. Nie mehr." Die anmutige Nicole denkt analytisch präzise und beobachtet aufmerksam, lächelnd. Manchmal erscheint sie wie schwerelos, zumindest im verliebten, liebenden Blick von Pierre. Aus dem Gespräch entsteht die Beziehung: "Du hast zum zweiten Mal in unserem Leben gelacht, und ich habe es dir gesagt. … Klar, darauf folgte ein langer Kuss, ungestüm und voll ungeduldiger Neugier auf das, was kommen würde." Ganz unpathetisch schreibt Evelyne de la Cheneliére über diese sehr besondere Zweisamkeit.

Pierre war scheu, ein schüchternes Kind. Wenn seine Gedanken dahin zurückkehren, so steht die Angst vor anderen wie ein Wesen im Raum. Ein sensibler Junge, der sich in einer "sehr antiquierten Sprache" ausdrückt, erregt Unverständnis, Spott, gallige, vergiftete Ironie. In der Schule lachen Lehrer und Schüler über Pierre: "All das hat aus mir einen sehr unglücklichen und später sehr schweigsamen Jungen gemacht. Ich hörte auf zu reden, verlor erst die Wörter und dann die Stimme." Zu Nicole fühlt er sich hingezogen. Auch sie hat schmerzhafte Erfahrungen gemacht, was Pierre gewiss ist, ohne dass sie alles erzählt. Liebende kennen einander, tauschen sich aus, geben sich hinein auch in die Geschichten, die sie sich erzählen, in ihrer eigenen Wahrnehmungsweise, ohne einander etwas vorzuspielen – oder nicht? 

Die Sprache in der Beziehung wächst, entfaltet sich, aber die Nähe, die bis in die Träume hineinreicht, macht auch sprachlos, weckt ambivalente Gefühle: "Wir träumten dieselben Träume, und ich gebe zu, dass auch ich beim ersten Mal Angst bekommen habe." Doch dann zeigen sich die Liebenden erhaben, souverän, hochmütig: "Anfangs hat uns das geschmeichelt, unserem Stolz als Liebende geschmeichelt, dem schlimmsten unter allen Arten des Stolzes. Da wir dieselben Träume träumten, fühlten wir uns enger verbunden als alle anderen. Wir brüsteten uns damit, verliebter zu sein als alle Verliebten, da wir selbst im Traum zur selben Geschichte gehörten." Ein stolzes, entrücktes "Wir"? In der Traumverwobenheit beginnt eine ganz eigene "Parallelexistenz, von der alle anderen nichts wussten", freilich auch nichts wissen konnten. Die Entzweiung beginnt leise, mit "getrennten Rechnungen", eine "Trennung nach allen Regeln des Anstands". Darauf folgen früher oder später getrennte Wege. Auf gewisse Weise gehen Menschen paarweise noch miteinander, nach außen hin, sehen einander noch an, sehen aber mehr und mehr das Trennende. Eine Weile bleibt noch die Fassade der Harmonie sichtbar, aber die Risse sind längst darin eingezeichnet.

Das Geflecht der Beziehung von Pierre und Nicole ist ein sehr feines Gespinst. Befreundete Paare sehen noch die Oberfläche. Wahrscheinlich haben sie nie mehr als das gesehen. Das Paar wirkt wie ein verehrtes Denkmal der Liebe. Wer dichterisch begabt ist, könnte dazu Verse schmieden. Könnten, so fragt sich der Leser, Pierre und Nicole nicht zusammenbleiben, auch wenn sie innerlich längst wie entzweit sind? Waren sie sich denn je so nahe, wie sie selbst es glaubten – Pierre etwas mehr als Nicole –, und wie andere es glaubten oder glauben wollten? Vor der Begegnung mit Pierre hatte Nicole "vergessen, wie Männer schmecken". Sie hatte gelesen, immerzu, "zwanghaft", alle Bücher, die sie fand – "davon wurde mir übel, aber ich machte weiter, ich las ohne Unterlass, ich sagte mir, die Wörter würden in mir bleiben, anders als die Männer, die am Ende immer fortgehen". Die Erinnerungen bleiben im Gedächtnis, fließen dahin, denn "man kann nichts zurückholen".

Vielleicht sind "Pierre-und-Nicole", ein Name voller "Klangschönheit", auch in den Momenten großer Nähe immer im Letzten für sich geblieben? Ein paar Geheimnisse bleiben. Diese Lebens- und Liebesgeschichte ist mitnichten ein Kriminalroman, in dem sich alle Fäden zum Schluss auflösen, bis die Beteiligten wie die Leserschaft sagen kann: So also ist es gewesen, ganz genau, ja so und nicht anders. An Urteilen über die endliche Zweisamkeit mangelt es nicht. Wahrnehmungen täuschen, mehr noch Ansichten und Meinungen, auch wir lassen uns täuschen.

Noch immer wird, auch in Geschichten und Gedichten, Liebe mit Glück in Verbindung gebracht, und Evelyne de la Cheneliére deutet behutsam auf anderes hin, was unsichtbar bleibt. Anders als Clärchens Mutter würde diese Schriftstellerin nie von einem "Heiopopeio" sprechen, sie zeigt uns zwei Liebende. Pierre und Nicole gehören unsere Sympathie, unser Mitgefühl und unsere Zuneigung. So gewinnen wir Anteil an ihrer berührend erzählten Geschichte.


von Thorsten Paprotny - 24. November 2020
Das Meer, von fern
Evelyne de la Chenelière
Gerda Poschmann-Reichenau (Übersetzung)
Das Meer, von fern

Müry Salzmann 2019
Originalsprache: Französisch
136 Seiten, gebunden
EAN 978-3990141854