Mati Shemoelof: Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe

Unerwartete Hoffnungszeichen

Poetische Erkundungen im Nahen Osten verbinden sich mit einer gedankenvollen Reise nach Berlin, die der arabisch-jüdische Dichter Mati Shemoelof in diesem Band verflochten und verwoben hat, mit Ausblicken auf die politische Gegenwart und besonders auf das weite Land der verwundeten Seele, die sich Frieden wünscht und den monströsen "Leviathan", also politische Regime, Staaten und Institutionen, fürchtet. Schenkt die Sprache der Dichtung Hoffnung?

Der Dichter sucht Obdach im Haus der Sprache. Das lyrische Ich erinnert sich wehmütig an ein "ganz bestimmtes Wort", den Kuss, der in einem Wörterbuch verzeichnet war, "das im letzten Jahrhundert verloren ging". Auch in diesem Gedichtband wird das Grauen der Shoah sichtbar, das in der Geschichte, besonders in der Familiengeschichte, präsent, schmerzhaft gegenwärtig bleibt. Bleibt vom Kuss also nicht mehr als eine Erinnerung? Die Welt scheint wie verschattet zu sein. Der "Tempel der Kindheit" ist zerstört. Der Dichter schreibt:

 

"Hastig wie der Tod rütteln die Worte mich wach
Erinnern daran, dass alles vergänglich ist
auch dieses Gedicht wird am Ende beerdigt
dennoch drehte ich den Hahn auf, tränkte meine brennende
Sehnsucht nach dir
und ließ eine Wanne mit Erinnerung volllaufen."

 

In Sprachbildern von eigener Art sucht Shemoelof auch Hoffnungsbilder, denn er möchte von "sterblichen Worten" nicht lassen, im Wissen darum, dass nicht nur das Leben, sondern auch die Gedichte darüber von der Endlichkeit bezeichnet sind. Damit distanziert das lyrische Ich den erhabenen Ton, der Dichtung eine Form von Ewigkeit zuweist. Bleibt also nichts als Illusionslosigkeit? Einzig die "verwaiste Liebe" dauert fort, stimmt ein Lied an, das die Seelen der Toten tanzen lasse. Auch der Dichter, einem "Fischer am Ufer der Zeit" gleich, wehrt sich gegen den Strom des Vergessens, hadert damit, dass die Erinnerung nichts als Erfindung, das Gefühl bloß Fiktion sein soll. Eine Ohnmacht der Wörter wird beschrieben, angedeutet, immer wieder ist alles, was in Sprache gekleidet ist, vom Vergessen bedroht. Bisweilen deutet sich eine Wortarmut an, doch das "Geheimnis des Gedichts" überdauert die Zeit der Dürre, es wartet darauf, vollendet und "vorgetragen zu werden", so dass eine "ganz neue Güte des Geschriebenen" sichtbar wird.

Das lyrische Ich entdeckt den "Reisepass in die Fantasie":

 

"Ich kenne ein Mädchen, das mir Heimat schenkt
ich kenne ein Mädchen, das in meine Poesie einging
ich kenne ein Mädchen, mit der ich in einer uralten Sprache
rede, ihr
jeden Tag Worte einer neuen Liebe zu sagen
und sie
lauscht der Musik der Buchstaben
und tanzt lachend dazu"

 

Dieses Mädchen gewährt neue Hoffnung, befreit Atem zu schöpfen, in einer erschöpften, traurigen Zeit der "grauenhaften Kriege", in der es für den Dichter vorstellbar ist, dass auch ein Hisbollah-Soldat und ein Soldat der Israelischen Armee sich zufällig, natürlich bewaffnet, begegnen. Oder ist gegenseitiges Verständnis ausgeschlossen?

 

"er wollte dich aus dem Libanon jagen, weil du in sein Haus
eingebrochen bist
du hast entsprechend bezahlt, um an den Holzkolben seiner
Kalaschnikow zu kommen"

 

Alles scheint aussichtslos zu sein, doch dann "stellt er dich seinen libanesischen Freunden vor", eine "Freundschaft auf Zeit" wird denkbar, in einem rauschhaften Moment, wenn die "Friedenspfeife" geraucht wird, dann "gibt es eine Wolke, dem Auge verborgen / die flüstert Gott ein süßes Geheimnis zu". Vielleicht fügt sich hierzu der später folgende lyrische Lobpreis: "Wohl den Verrätern, die etwas Heiliges in der Fremde suchen / ihr Herz den Werten öffnen, die wir für unerreichbar hielten".

Ernste Dichtungen hat Mati Shemoelof vorgelegt, ja freigegeben, zur Lektüre, zur gedankenvollen Betrachtung, Gedichte, die von Trauer bezeichnet sind, aber auch Ausblicke auf kleine, unscheinbare Hoffnungszeichen schenken. Dieser Funke Hoffnung verbindet nicht nur Menschen aller Religionen und Nationalitäten im Nahen Osten weit über alle Konflikte hinaus. Die "Friedenspfeife" möge Freundschaften von Dauer stiften. Vielleicht wird dann auch der grenzüberschreitende Kuss, der, wie das Shemoelofs lyrisches Ich zu Beginn des Bandes berichtet hat, seit dem vergangenen Jahrhundert verloren gegangen oder verschollen ist, wieder neu entdeckt werden.

Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe
Gundula Schiffer (Übersetzung)
Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe
Gedichte
87 Seiten, broschiert
Originalsprache: Hebräisch
EAN 978-3988050120

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