Entfremdung
Nicht ein einziges Mal taucht der politische Begriff Entfremdung in der von Antje Hermenau, Politikerin außer Dienst, verfassten Streitschrift über Deutschland auf – und doch beschreibt die Publizistin in ihrem Essay kaum etwas anderes als die bestehenden gesellschaftlichen Differenzen zwischen Bürgern, Staat und Medien. Die Autorin diagnostiziert in ihrem pointierten, mitunter salopp formulierten Essay über krisenhafte Zustände in der Bundesrepublik.
Hermenau scheut vor Begriffen mit Patina wie "Abendland" nicht zurück und macht auch einen inflationären Gebrauch von umgangssprachlichen Adjektiven wie "super", integriert oft Metaphern in ihre Ausführungen und schreibt unnötig plakativ, wenn sie über das "große Nichts" sich artikuliert, das durch die "aktuelle abendländische Gesellschaft" sich bewegt. Eine "totale Ohnmachtserfahrung" in der "Konsumgesellschaft" bringt sie mit den "politischen Maßnahmen im Zuge der Corona-Infektion" zur Sprache. Treffend beobachtet ist, dass die Schulmeisterrepublik Deutschland hier eine neue Blütezeit erlebte, durch Formen des "Belehrungsverhaltens", verbunden mit "gendergerechter Ansprache im Fernsehen". Frau Hermenau lädt ein zu einer "launigen Reise durch das große Egal der heutigen moralinsauren Zeit auf der Suche nach der Wiederkehr der Vernunft". Die Hoffnungen, die sie mit Varianten des Protestes wie "Spaziergängen" verbindet, bleiben fraglich und sind auch unreflektiert vorgestellt. Zunächst schreibt sie über die Corona-Jahre: "Das Volk merkte, dass es den Regierenden egal war. Die Wirtschaft merkt, dass sie allen egal war. Die Künstler merkten, dass sie besonders egal waren – viele Menschen kamen offenbar problemlos ohne sie aus." Insbesondere beklagt Antje Hermenau eingeübte Einseitigkeiten, etwa in der Berichterstattung in den Medien: "Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat sich selbst zum öko-sozialen Erziehungsfernsehen verzwergt." Bedenkenswert sind ihre Einlassungen über die Kirchen, die sich "willenlos" als "überflüssig dargestellt" hätten und sich auch allen politischen Maßnahmen unterwarfen: "Was für ein Trauerspiel waren für viele Gläubige die beiden letzten Osterfeste? Wie viele alte Menschen lebten und starben isoliert? Das kann doch nicht egal sein?" In Einzelfällen umgingen manche Pfarrer und Gemeinden die Maßnahmen und seien "einfallsreich" gewesen, insgesamt gab es vielerorts mahnende Worte, in denen große Kirchen ausdrücklich für kurze Gebete für wenige Personen geöffnet wurden: "Wenn jedoch die Kirche dem Einzelnen nicht mehr direkt Trost und Rückhalt anbietet, sondern Online-Andachten für angemessen hält, ist sie dann nicht selbst egal, ja, hat sie sich dann nicht selbst wirklich egal gemacht? Mit dem Zeitgeist zu eng verwoben, wird sie rapide egal. Die Austritte häufen sich. Wo war meine Kirche, als ich sie brauchte, fragen sich viele. Zeitgeist gibt es schon genug – eine in sich ruhende Kirche mit 2000 Jahren Lebenserfahrung im Rücken, die über jedem Zeitgeist stünde, die wäre hingegen nicht egal. Die hätten wir sogar dringend gebraucht."
Antje Hermenau spricht über die Dominanz des virulenten Zeitgeistes und den vielen Farben des heutigen "Gedanken-Rokokos", wozu sie insbesondere das "Gendern" zählt. Nüchterner formuliert: über Gender wird wenig diskutiert, aber eine korrekte Sprache wird gefordert. Die soziale Frage – die Älteren mögen sich erinnern: es gibt immer noch Armut und Reichtum, oder nicht? – scheint gelöst oder verbannt zu sein. Die "Vorschläge zur Erneuerung der Gesellschaft" würden als "ausdiskutierte Dogmen" dargestellt. Immer wieder spricht Antje Hermenau mit Leidenschaft über die Kirchen: "Die Religion muss der Wahrheit, nicht der Mehrheit verpflichtet sein. Staat und Kirche sollten getrennt und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sein. Kirchen gehören zwingend zu denen, die das Boot balancieren, damit es nicht kentert." Aber sind sich die Kirchen dessen bewusst? Der seit Jahren stattfindende "Synodale Weg" der katholischen Kirche in Deutschland bezeugt eher das Gegenteil – das wäre eine weitere Geschichte über Entfremdung wert. Das Buch von Antje Hermenau zeugt von Streitlust und Freude an der Diskussion. Sie zeigt Entfremdungsprozesse auf. Die Schrift ist lesenswert – und natürlich darf der Autorin begründet widersprochen werden. Antje Hermenaus Thesen laden ein zur Diskussion.
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