Rilke als Vordenker des Faschismus?
Rilkes Briefe sind Legende. In einer Wintersaison konnten es schon mal 400 sein, die er durch halb Europa schickte. Zumeist konnte er sich in den Briefen sogar besser öffnen als im persönlichen Kontakt. Sogar über Politik. Der zeitlebens unpolitische Dichter war aber ähnlich wie Thomas Mann nicht wirklich unpolitisch. Seine konservativen Wertvorstellungen beherbergten teilweise ebensolche Abgründe, wie es für die Mehrheit der damaligen Elite üblich war: Protofaschismus, Antisemitismus, Rassismus.
Der Dichter als Revolutionär/Reaktionär
Rainer Maria Rilke war sicherlich in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Er war bis zu seinem Tode mit 51 Jahren verheiratet, lebte aber seit seiner Hochzeit getrennt von Ehefrau und Tochter. Rilke wurde in Prag geboren und hatte nach dem Krieg einen tschechoslowakischen Pass, war aber Österreicher, lebte jedoch vornehmlich in Paris oder Italien. Dass Künstler gemeinhin abstruse politische Gesinnungen vertreten, die den einen oder anderen verstören können, tut dem Werk selbstverständlich keinen Abbruch. Dass Rilke sogar als Sympathisant der Münchner Räterepublik gehandelt wird, beruht einfach auf dem Zufall seines München-Aufenthaltes zu jener Zeit, denn trotz seiner Russland-Liebe hatte er sich schon früh gegen den Bolschewismus ausgesprochen. Genauso übrigens gegen die „Amerikanisierung“, vor der auch schon seine Zeitgenossen warnten. Umso mehr verwundert es, dass sich ausgerechnet in einem Brief an die junge Mailänder Fürstin Aurelia „Lella“ Gallarati-Scotti u. a. der folgende Satz findet: „Italien, dem einzigen Lande, dem es gut geht und das im Aufstieg begriffen ist.“ Wer dahinter Schmeichelei an die Empfängerin seines Briefes, Lella, vermutet, mag nicht so falsch liegen, aber auf den Widerspruch der Fürstin verstrickt sich der Dichter noch mehr in Ungereimtheiten. Denn die Adelige schneidet in ihren humanistischen Argumenten viel besser ab als der ach so einfühlsame Dichter.
Rilke, der Vordenker?
„Architekt des italienischen Willens“, „Schmied eines neuen Bewusstseins, dessen Flamme sich an einem alten Feuer entzündet. Glückliches Italien“ (14.2.1926). Diesen genannten Briefwechsel, der noch bis 1926 fortdauerte, nimmt der Journalist und Schriftsteller Hans-Peter Kunisch zum Anlass, sich die politischen Ansichten Rilkes genauer anzusehen. Schon in Rilkes Gedichten findet er bevorzugt eine archaische Gesetzgebung, der man sich als Unterdrückter zu unterwerfen habe, sowie das Schreckgespenst einer „grenzenlosen Freiheit“. Der Verfasser zahlloser einfühlsamer Verse lasse eine gewisse Empathielosigkeit in seiner „snobistischen Attitüde“ bemerken, so Kunisch. Dieser „elegante kleine Mann mit den guten Manieren“ lobte Mussolini zu einer Zeit, als schon bekannt war, dass dieser seinen prononciertesten Gegner, Giacomo Matteotti, entführen und mit einer Feile ermorden ließ. Mussolini hatte schon Wahlen fälschen lassen, politische Gegner ermorden und seinen Marsch auf Rom organisiert, als der Zeitungsleser Rilke ihn immer noch loben konnte. Auch wenn Rilke einen deutschen Nationalismus ablehnen konnte, weil ihm die Preußen nicht passten, fand er doch eingangs zitiertes pathetisches Lob für den selbsternannten Duce. Kunisch geht hart ins Gericht mit dem „Salonfaschisten“ (O-Ton) Rilke, der u. a. auch schon in seinem „Malte“ schwülstig einen Soldatentod feierte. Selbstverständlich fand dies alles unter dem Deckmantel des Unpolitischen statt.
Protofaschistische Baragouinage
Gerade das vermeintlich „Unpolitische“ sei aber zutiefst politisch, da es sich außerhalb des Links-Rechts-Schemas auf ein Podest des höheren nationalen Interesses zurückziehe und von oben herab agiere. „Der erscheint mir als der Größte,/ der zu keiner Fahne schwört,/ und, weil er vom Teil sich löste,/ nun der ganzen Welt gehört.“, schreibt Rilke in seinem Gedicht „In Dubis“. Dass er dann in einem anderen Statement bezüglich der Juden von „Austrennung“ spricht, auch das wird von Kunisch genau analysiert, in Kontext gestellt und lässt einen mit gewissen Zweifeln zurück. Seine „mitleidlose Weltsicht“ (Kunisch) wertete moderne (demokratische, soziale) Versuche der Menschen, ihre Existenz zu verbessern, stets ab und redete einer ordnenden Hand eines Despoten das Wort. Seine Geschichtsphilosophie, die jedem Einzelnen nahelege, alles, was ihm begegne, nicht zu kritisieren, sondern als Schicksal zu akzeptieren, spreche Bände. Auch seine fortschreitende Krankheit, die Rilke während seiner letzten Jahre begleitete, lässt Kunisch nicht als Rechtfertigung gelten: Seine irritierenden politischen Äußerungen untersucht er auch in einer Art Editionsgeschichte in der zweiten Hälfte seiner Analyse. Diese muten beinahe kriminologisch an. Sicher war Rilke kein Faschist, aber ob er dafür einfach nicht alt genug wurde (er starb 1926) oder sich gerne mit „Baragouinage in zwei Briefen“ gänzlich dafür entschuldigt hätte, das weiß selbstverständlich auch der Autor nicht.
Hans-Peter Kunisch hat dem Dichter Rainer Maria Rilke stellvertretend für seine Zeit den Prozess gemacht. In Abwesenheit des Beschuldigten. Dennoch ist es ein wichtiger Beitrag zur Untersuchung der Voraussetzungen des Faschismus und eines Gesellschaftsbildes, das dem nietzscheanischen Übermenschen ebenso huldigte wie dem Künstlergenie. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch ...
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