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Daniel Goffart: Das Ende der Mittelschicht

Gesellschaftliche Umwälzungen sind in Gang

"Noch heute fällt es mir schwer, die Finanzen meiner Eltern nachzuvollziehen. Oder besser gesagt: Mir ist es absolut schleierhaft, wie sie mit dem mittleren Angestelltengehalt meines Vaters und der periodischen Halbtagsarbeit meiner Mutter ein Haus, viele Urlaube sowie das Studium und die Ausbildung ihrer vier Kinder finanzieren konnten. »Wir waren sparsam«, antwortet mein Vater heute auf entsprechende Fragen von mir. Aber wenn wir die damaligen Gehälter unter Einrechnung der Inflation mit denen von heute vergleichen oder den damaligen Kaufpreis für unser Reihenhaus in Bezug zu den heutigen Immobilienpreisen setzen, dann räumt mein Vater ein: »Wir haben damals offenbar mehr bekommen für unser Geld.«"

Gleich zu Beginn beschreibt der Autor die eigene Kindheit am Aachener Stadtrand, inmitten einer Reihenhauszeile, bewohnt von einer einheitlichen und breiten Mittelschicht, die nach gleichen Regeln und Werten funktionierte und auf einem Fundament solidarischer Nachbarschaft stand. Und eben für diese Mittelschicht postuliert Daniel Goffart ein baldiges Ende. Der Verfasser, gelernter Jurist, begann seine berufliche Tätigkeit als Rechtsanwalt, war danach u. a. mehrere Jahre im Management der Deutschen Telekom AG tätig, leitete beim Handelsblatt das Ressort "Wirtschaft und Politik" und ist heute Chefkorrespondent beim Nachrichtenmagazin FOCUS in Berlin. Das aufrüttelnde und spannend geschriebene Buch greift systematisch und umfassend die wesentlichen Entwicklungen auf, weshalb sich nach Ansicht des Verfassers der Trend zur Auflösung der Mittelschicht ungebrochen fortsetzen wird und diese trotz ihrer bisherigen Erfolge als Auslaufmodell gilt.

Dabei ist diese Diagnose nicht neu. Beispielsweise hat das vom Berliner Wirtschaftswissenschaftler Marcel Fratzscher geleitete Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das sich seit einigen Jahren intensiv mit der wachsenden Ungleichheit und der Veränderung der Gehalts- und Einkommensstrukturen in der Bundesrepublik befasst, schon vor einigen Jahren konstatiert, dass "die Mitte bröckelt". Renommierte Soziologen, wie z. B. Stefan Liebig, der als Direktor des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) zusammen mit seinen Mitarbeitern jedes Jahr rund 20'000 Menschen in Deutschland zu ihrer finanziellen und beruflichen Lage, aber auch zu ihrer Gefühlslage befragt, stellen fest, dass die Bezieher mittlerer Einkommen vor allem ihr Nettoeinkommen im Vergleich zu ihrem Bruttogehalt zunehmend als ungerecht empfinden und schlussfolgern, dass das Gefühl von Ungerechtigkeit Gift für moderne Gesellschaften ist. Und kein anderer wie der erfolgreiche Siemens-Chef Joe Kaeser, Technikfreak und versierter Zahlenmensch, geißelt die oft naive Fortschrittsgläubigkeit der "Digital-Apostel", welche völlig unkritisch alles Digitale feiern und jeden Zweifel an den Heilsversprechen des Silicon Valley ausblenden. Kaeser verweist auf die riesige gesellschaftliche Herausforderung, welche die Digitalisierung mit sich bringen werde: "Die Digitalisierung wird die Mittelklasse vernichten. Die Digitalisierung ist 1-0-1-0-1-0 – und eben nicht die analoge Entwicklung über einen bestimmten Zeitraum. Folgendes wird passieren: Da nicht jeder ein Software-Ingenieur ist, schrumpft die Mittelklasse. Sie wird dünner. Es findet eine Art Polarisierung statt. Von zehn Menschen in der Mittelklasse steigt einer auf, und neun steigen ab."

Daniel Goffart ist somit weder der Erste, noch derzeit der Einzige, der das Ende der Mittelschicht ausruft. Die Bedeutung seines Buches liegt vielmehr in der komprimierten und schonungslosen ökonomischen Analyse der unterschiedlichen Ursachen, die das im Titel ausgerufene "Ende der Mittelschicht" bewirken. Dabei werden auch politische und gesellschaftliche Implikationen einbezogen bis hin zum sträflich von der Politik vernachlässigten Bildungssektor, in dem sich hierzulande schon eine Entwicklung wie in Großbritannien und den USA abzeichnet mit all den problematischen Folgen für den Zusammenhang in der Gesellschaft: "Wer es sich leisten kann, meidet den öffentlichen Sektor und lässt seine Kinder in teuren privaten Einrichtungen ausbilden".

Eine wichtige Rolle beim Abschmelzen der Mittelschicht spielen die in den vergangenen drei Jahrzehnten nur sehr moderat gestiegenen oder sogar stagnierenden Realeinkommen beim Durchschnittsverdiener, während die Gehälter von Top-Managern geradezu explodierten und die Reichen immer reicher werden. Die Schicht von Menschen mit mittleren Einkommen schrumpft. Nicht zuletzt ist auch der unersättliche Fiskus an der Ausplünderung der Mitte beteiligt. Während man vor sechzig Jahren noch das Zwanzigfache des Durchschnittseinkommens verdienen musste, ehe man den Spitzensteuersatz bezahlen musste, reicht heute dafür das 1.3 -Fache. Des Weiteren moniert der Autor u. a., dass die ab 2005 geltende nachgelagerte Besteuerung und die Sozialversicherungspflicht von Erträgen aus Lebensversicherungen oder Versorgungswerken bei der Auszahlung einen guten Teil der für die Ausbildung der Kinder oder das eigene Alter gebildeten Ersparnisse vernichtet, während Erbschaftsteuern fast gar nicht mehr erhoben werden und die Kapitalerträge der wirklich Reichen pauschal mit 25 Prozent besteuert werden. Hinzu kommt, dass die bereits lang anhaltende Phase der Niedrigzinsen tiefe Spuren in den Bilanzen der Assekuranzen bzw. gefährliche Schieflagen in vielen betrieblichen Altersversorgungen hinterlassen haben, so dass sich die Höhe der in Aussicht gestellten Auszahlungen, und damit ein Teil der Absicherung für das Alter, gerade in Luft auflöst und ohnehin vorhandene Zukunftsängste verstärkt. Auch im Hinblick auf die noch sehr hohen Abgaben für Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherungen ist nicht nur keine Entlastung in Sicht, sondern angesichts des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts dürften die Beiträge für die Sozialversicherung in Zukunft sogar eher steigen.

Weite Strecken seines Buches widmet der Autor der Digitalisierung, und damit der größten Veränderung des bislang vertrauten Lebens, die der Mittelschicht noch bevorsteht. Die mit der Digitalisierung verbundenen Gefahren, was bspw. die Art und den Umfang der Beschäftigungsverhältnisse, aber auch die Macht einer Handvoll von Internetkonzernen angeht, werden nach Ansicht von Goffart, zugunsten der zweifelsohne auch vorhandenen Chancen, welche digitale Dienstleistungen und Prozesse mit sich bringen, von weiten Teilen der Politik und Wirtschaft völlig unterschätzt. Zwar lassen sich gegenwärtig keine verlässlichen Zahlen nennen, in welchem Umfang die Künstliche Intelligenz und die Vernetzung aller Produkte und Gesellschaftsbereiche Jobs vernichten und neue Tätigkeitsbereiche entstehen lassen; es spricht jedoch sehr viel für die Annahme, dass die Zahl der wegfallenden Stellen im einfachen und mittleren Tätigkeitsfeld die Zahl der im High-Tech-Bereich neu entstehenden Zahl deutlich übersteigen wird. Geht man zusätzlich davon aus, dass sich im Rahmen der Plattformökonomie die Zahl der Festanstellungen mit sozialer Absicherung zugunsten neuer, häufig prekärer Beschäftigungsformen wie Click- oder Crowdworking, stark reduzieren wird, sind die Folgen für das soziale Sicherungssystem fatal.

Die weiteren Analysen des Buches befassen sich mit den folgenden Themen bzw. Unwuchten:
- Vom Auto zur App? – Warum die deutsche Industrie in Lebensgefahr ist. Chancen und Risiken der Revolution 4.0.
- Der perfekte Sturm – Warum Demografie, Digitalisierung und Niedrigzinsen die Altersversorgung der arbeitenden Mitte zerstören.
- Von der Kita bis zum Capital Club. – Die Privatisierung der Bildung entwertet das Aufstiegsversprechen.
- Geschlossene Gesellschaft - Members only – Drei Generationen nach der »Stunde null« bleibt die Elite in Deutschland wieder unter sich – und wird immer reicher.
- Geht Demokratie ohne Mittelschicht? – Eine breite Mittelschicht ist das Rückgrat der Demokratie, aber Angst, Verunsicherung und Wut lähmen die Politik und befördern die Radikalen.
- Marketing, Manipulation, Machtmissbrauch – Die unheimliche Wirkung der Algorithmen reicht von der digitalen Entmündigung der breiten Massen bis zur Gefährdung der freien Marktwirtschaft und der Demokratie.

Goffart begnügt sich jedoch nicht mit der Analyse all dieser Entwicklungen und der Schlussfolgerung, dass die Folgen von Globalisierung und Digitalisierung in ihrer Dramatik gar nicht überschätzt werden können. Auf vierzig Seiten des letzten Kapitels seines Buches entwickelt der Verfasser ein Bündel interessanter Reformvorschläge zur Frage, was alles getan werden muss, um die Freiheit zu verteidigen und die gesellschaftliche Wertschöpfung im Zeitalter der Digitalisierung gerecht zu verteilen. Im Kern plädiert er für einen digitalen Gesellschaftsvertrag bzw. für eine Art Zukunftsagenda 2030 zur Lösung der wichtigsten Probleme. Die zehn Punkte umfassen eine breite Palette von konkreten und weitreichenden Optionen, beginnend mit Maßnahmen zur Wahrung und Durchsetzung des Rechts im Internet sowie den verschiedenen Möglichkeiten, die Kosten der Disruption und die digitale Rendite neu zu verteilen, bis hin zu Vorschlägen, welche die ethische und ökologische Dimensionen der Digitalisierung betreffen. Als Überraschung wird am Ende des Buches ein Interview mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil präsentiert, das der Autor Mitte September 2018 geführt hat und das gleichermaßen Nachdenkenswertes über die Digitalisierung, als "die soziale Frage des 21. Jahrhunderts" (Heil), enthält.

Mit diesem Werk ist dem Verfasser zweifelsohne ein wichtiger und engagierter Weckruf gelungen. Man mag und muss sich nicht unbedingt alle darin enthaltenen Thesen zu eigen machen. So kann man z. B. zwar durchaus streiten, ob die Besteuerung von Renten ein Skandal ist oder, etwa in Anlehnung an Rürup, die Meinung vertreten, dass es kein gutes Argument gibt, Menschen im Rentenalter mit einem steuerpflichtigen Einkommen anders – sprich günstiger – zu behandeln als jüngere Einkommensbezieher. Völlig unbestritten aber dürfte sein, dass Daniel Goffart mit diesem Buch einen sehr gewichtigen Beitrag geleistet hat, um die derzeitigen Herausforderungen für die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft schonungslos zu identifizieren und aufzuzeigen, dass nicht nur das Ende der Mittelschicht droht, sondern auch unser aller Freiheit in akuter Gefahr ist.


von Bernd W. Müller-Hedrich - 25. Mai 2019
Das Ende der Mittelschicht
Daniel Goffart
Das Ende der Mittelschicht

Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell
Berlin Verlag 2019
400 Seiten, gebunden
EAN 978-3827013965