Nicolas Büchse, Albrecht Weinberg: »Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm«

Erinnerungen an die Schrecken der NS-Zeit

Überlebensgeschichten aus der NS-Zeit sind zugleich auch Geschichten über das Leben, authentisch, berührend und sprachlos machend. Albrecht Weinberg kennt das Grauen dieser Zeit aus nächster Nähe. Mit Nicolas Büchse berichtet er, was ihm widerfahren ist, stellvertretend für seine Generation, als Stimme all jener Millionen Opfer, die das Tausendjährige Reich, das bekanntlich zwölf Jahre zu lange dauerte, forderte. Dieses Buch ist ebenso eine Mahnung für die Gegenwart, in der völkisches Denken und nationalistische Stimmungsmache wiederaufleben.

In der Familie Weinberg wurden nach der Machtergreifung Feindseligkeiten im Alltag registriert. Albrechts Vater glaubte, ein „guter Deutscher“ zu sein, der einen Platz in der Gesellschaft innehatte, den ihm niemand streitig machen konnte. Viele Juden waren überzeugt davon, dass der sichtbare „Judenhass der Nazis“ rasch wieder verfliegen würde, auch wenn direkt vor dem Haus die Partei und ihre Schergen ihre Feste feierten, die Hakenkreuzflagge hissten und alle möglichen Anlässe für ihre Aufmärsche suchten und fanden. Der Spuk musste doch bald vorbei sein, so dachte Weinberg, doch alle Hoffnungen zerstoben bald. Die NS-Herrschaft etablierte sich, nicht nur Gehässigkeiten, antisemitische Parolen, sondern auch gewalttätige Übergriffe nahmen zu: „Wir Kinder lernten, durch die Straßen zu gehen, als versuchten wir unsichtbar zu sein. Wir hielten auf dem ganzen Weg zur Schule voller Angst Ausschau nach Hitlerjungen und anderen bösartigen Kindern, und wenn sie uns beschimpften, bespuckten oder mit Steinen bewarfen, dann liefen wir an ihnen mit gesenktem Blick vorbei, wie Hunde, die ihren Schwanz eingezogen haben.“ Diese Ängste zeigen auch den bitteren Realismus. Die neuen Machthaber rekrutierten willige Helfer, aus pubertierenden Jugendlichen wurden binnen kurzer Zeit prügelwütige Knaben, die blind zuschlagen konnten und nicht Strafe und Zurechtweisung, sondern Lob und nazistische Anerkennung erwarten durften, ob von ihren Eltern oder den Parteischergen. Albrecht und seine Altersgenossen wollten unsichtbar sein, aber sie waren es nicht. Die „Rassentrennung“ an der Schule wurde bald durchgesetzt, die „Judenkinder“ wurden separiert. Albrecht versteht auch nicht, warum er beim Jungvolk nicht mitmarschieren durfte. Die Mädchen und Jungs aus jüdischen Familien verstehen die Welt nicht mehr, die immer kälter, immer herzloser, immer grausamer wurde, auch in Leer in Ostfriesland.

Die „Reichspogromnacht“ zeigte den Schrecken der NS-Zeit: „Wir, die wir auf der anderen Seite der Stadt zusammengetrieben wurden wie mittwochs die Tiere auf dem Viehmarkt, bekamen nicht mit, dass die Synagoge brannte. Wir hätten vor dieser Nacht wohl auch nicht geglaubt, dass die Nazis dazu fähig waren. Aber diese Nacht änderte alles, und noch heute kann ich diese tiefe Angst fühlen, die sich von nun an in mein Leben schlich. Und die Schmerzen meiner Verzweiflung. Ich war dreizehn Jahre alt und konnte es einfach nicht verstehen. Wir waren doch deutsche Bürger wie unsere Nachbarn, wir sprachen Plattdeutsch wie sie, wir waren in denselben Vereinen gewesen wie sie. Wir hatten doch nichts Schlimmes getan, warum hassten sie uns nur so?“

Der Hass wütet, nimmt zu, greift um sich. Der Krieg beginnt, die Verfolgung nimmt zu. Der Davidsstern muss bald getragen werden, das sichtbare Zeichen der Rechtlosigkeit. Der Stern zeigte, dass die Juden nicht zum „deutschen Alltag“ und zum „deutschen Leben“ dazugehörten: „Wir waren die Rechtlosen und für jedermann erkennbar. Wir fühlten uns von nun an immer beobachtet und lebten in ständiger Angst, einfach von der Straße weg verhaftet zu werden.“ Albrecht Weinberg schildert sodann eindrücklich die Konzentrationslager. Das Trauma der Verfolgten wird spürbar. Die Leser gehen in Gedanken mit, nehmen Anteil an den emotionalen Zuständen und existenziellen Grenzerfahrungen. Er berichtet vom „Massengrab“ Bergen-Belsen, in dem es weder Massenhinrichtungen noch Gaskammern gab. Die SS ließ die Häftlinge hungern. Seuchen breiteten sich aus. Die Epidemien wurden von den NS-Schergen allerhöchstens beobachtet. Mitte April 1945 versuchten die SS-Offiziere die Verbrechen möglichst zu vertuschen. Die Armee hatte kapituliert, aber die Häftlinge, die dazu noch imstande waren, sollten die Leichen in Massengräber schaffen. Dazu spielte auf Befehl des Kommandanten die Häftlingskapelle Tanzmusik. Weinberg erinnert sich: „Dieser Totentanz hatte ein Ende, als ich den Panzer sah. Es war kein deutscher Panzer, wie ich erst gedacht hatte. Ich brauchte ein wenig, bis ich das realisierte. Es war der späte Nachmittag des 15. April 1945, als britische Soldaten mich und Tausende Menschen in Bergen-Belsen befreiten. Menschen schrien vor Glück. Sprangen in die Luft vor Ekstase. Ich empfand kein Glück. Ich hatte überlebt, aber ich lebte kaum noch. Ich war unfähig, mich zu freuen. Unfähig, weiter in die Zukunft zu denken als bis zum nächsten Bissen Brot.“

Albrecht Weinberg hat seine Erinnerungen vorgelegt. Wer dieses Buch liest, wird lange darüber nachdenken und vernünftigerweise den Kopf schütteln über die unsagbaren Verbrechen der Nationalsozialisten. Der Zeitzeuge verzichtet auf moralisierende Appelle, er schildert die Schrecken jener Zeit – aus nächster Nähe. Und damit ist alles gesagt.

»Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm«
»Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm«
Eine wahre Geschichte vom Holocaust, dem Überleben und einem Versprechen, das die Zeit überdauert
288 Seiten, broschiert
Penguin 2024
EAN 978-3328111443

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