Rein in den Gatsch
50. "Die jungen Leute von heute sind mir ein Graus." Die Zwillinge Marie-Louise und Marie-Claire haben das erste halbe Jahrhundert hinter sich und wollen ausgiebig feiern. Aber zuvor müssen sie noch den Liebhaber David, die Haushälterin und Zofe Ivana loswerden. Olivia darf bleiben. Doch dann fällt ein Schuss. Die Nachbarn rufen die Polizei, die sogleich die "Whosdoneit?"-Frage stellen. Dabei ist doch gar niemand erschossen worden. Dafür dröhnt Blondie aus den Boxen.
Sliwowitz und heitere Herrenwitze vor dem Damenschach
Der Plot allein, der sich wie eine klassische Murder Mystery liest, ist nur das halbe Vergnügen. Der eigentliche Genuss dieses zweiten Romans (Debüt ebenfalls bei Wagenbach: Hinterher) des gebürtigen Hannoveraners Finn Job sind die oft grenzenlosen Dialoge, die sich zwischen den fünf Protagonisten entspinnen, wie eine Schneelawine im Februar. Die gepflegte Architektenvilla am Wiener Stadtrand, im Wienerwald, wird zum Schauplatz einer exzessiven Geburtstagsparty mit Champagner, Sliwowitz, zertrampelten Rosen, zerschmetterten Vasen und einer Puppe im Pool. Aber es wird nicht nur allerhand Porzellan zerschlagen, sondern auch mit der Welt abgerechnet, in dem Zustand in dem sie sich jetzt gerade befindet. "Nichts ist schlimmer als geschlechtsverwirrte Esoteriker, die Teil unserer Gemeinschaft sein wollen und alles und jeden mit ihrem Aktivismus erpressen", schreit Olivia, die eigentlich die Frau von Marie-Claire ist. Aber Marie-Claire heißt jetzt Marius und ist ein Mann. Das verwirrt natürlich in erster Linie ihre eineiige Zwillingsschwester Marie-Louise, denn jeder Blick in ihre Augen ist auch ein Blick in ihr Spiegelbild (gewesen).
Das doppelte Lottchen in der Commedia dell'Arte
Immer wieder spielt auch Italien eine Rolle. In Rückblenden werden die Geschichten der einzelnen Liebespaare erzählt, entweder in Palermo, Venedig oder Florenz. Am Schluss türmen die zwei vom Rande auch noch nach Rom. Italien ist und bleibt der Gegenentwurf zu den kalten Deutschen und den lauwarmen Österreichern. Dafür sorgt Ivana für etwas Feuer vom Balkan. Sie, "die Zofe", hält sich als Haushälterin zwar immer im Hintergrund, zieht vielleicht aber doch die Fäden. So wie in der Commedia dell'Arte von der Finn Job ausgiebig fasziniert zu sein scheint. Auch er erzählt in "Damenschach" von Archetypen und der "Renaissance der Lüge", denn die Gesellschaftsschicht, in der sein Dramolett spielt, ist es gewohnt, sich etwas vorzumachen und den Schein zu wahren. Was aber, wenn die Masken fallen und das ungeschminkte Gesicht zum Vorschein kommt? "Aber ich verstehe nicht, warum hier alle so tun, als würden wir noch im 20. Jahrhundert leben." Finn Job lässt seine Zwillings-Geburtstagsparty am Abgrund der heutigen Zivilisation spielen, zitiert neben Louis-Malle-Filmen und Blondie auch die Chansoniere Barbara mit ihrer Elegie "Marienbad" und protzt mit allerhand Detailwissen. Oder hätten sie gewusst, dass das französische Weißbrot, das "Baguette", eigentlich aus Wien stammt? Die Weltuntergangversuchsstation (K.Kraus) Wien ist das Parkett, auf dem seine illustren Protagonisten Walzer tanzen und ausrutschen ... rein in den Gatsch. Aber am Ende gibt es Hoffnung.
Eine phänomenal anregende Lektüre, die nicht nur amüsant ist, sondern einen auch spaßig am Untergang des Abendlandes delektieren lässt. Bitte mehr davon!

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