Judith Hermann: Daheim

Gekommen um zu bleiben – Judith Hermanns besonderer Heimatroman

Mit "Sommerhaus, später" debütierte die Schriftstellerin Judith Hermann 1998. Die junge Autorin wurde gefeiert und vielfach beachtet für ihre sensible Erzählkunst. Weitere Bücher folgten. Anders als Monika Maron oder Botho Strauß exponierte sie sich nie mit essayistischen Kommentaren zum Zeitgeschehen. Von der feinsinnigen Ästhetik eines Martin Mosebach ist sie ebenso weit weg wie von den eher klassisch, ja konventionell angelegten, zugleich höchst erfolgreichen Romanen von Dörte Hansen. Judith Hermanns kunstvoll-minimalistische Art zu schreiben ist im weiten Feld der deutschen Gegenwartsliteratur selten, denn so wortkarg ihre Dialoge und Beschreibungen oft anmuten, so anschaulich und präzise nimmt sie inneren Regungen und Bewegungen ihrer Figuren wahr. Judith Hermann möchte nicht belehren, sondern schreiben. Das kann sie, und das tut sie. Ihre Erzählungen befinden sich jenseits aller Klischees.

Das "Ich" dieses Romans hat ein halbes Leben hinter sich gebracht, stammt aus dem Westen, "weit weg vom Wasser". Sie arbeitete in einer Zigarettenfabrik. Später sucht die Ich-Erzählerin noch einmal in mittleren Jahren einen Neuanfang, der weder psychologisch ausgeleuchtet noch melodramatisch inszeniert oder ironisch mitgeteilt wird. In der Nähe zum Meer möchte sie leben. In der Fabrik musste sie stets "Mahlzeit" sagen in der Mittagspause. Sie wollte nie "Mahlzeit" sagen. Wer sich den herrschenden Regeln nicht anpasste, dem würde gekündigt, so erfährt sie. Die Erzählerin war der Regeln, der Mächtigen und der Machtverhältnisse so müde. Sie hatte einfach keine Lust mehr, also konnte sie nur gehen. Ihre Geschichte ist eine Aufbruchs-, ja eine Emanzipationsgeschichte, jenseits von feministischen Absichten, philosophischen Attitüden oder schwerblütigen Identitätsbetrachtungen jeglicher Art. Sie wollte eine Reise machen, weit weg, aber ihr Leben verläuft dann doch anders: "Ich bin nicht nach Singapur gefahren. Ich habe andere Reisen gemacht. Ich habe Otis getroffen, wir haben geheiratet und eine Tochter bekommen. Ann ist groß, und Otis und ich sind auseinandergegangen. Seit fast einem Jahr lebe ich auf dem Land, an der östlichen Küste und in der Nähe meines Bruders." Sascha, fast sechzig Jahre alt, ist in eine eigene Liebesgeschichte verstrickt – noch nie sei er verliebt gewesen, aber der erst zwanzig Jahre alten Nike, die mit ihm spielte, ist er nun verfallen: "Er interessierte sich auch nicht für mich, oder für Otis oder Ann, wir hatten uns einige Jahre nicht gewesen, er hätte nach diesem oder jenem fragen können. Aber das tat er nicht. Er interessierte sich für Nike, und das war’s." Auch Momente des Schmerzes lassen den älteren Bruder nun staunen. Sascha erlebt fasziniert die "Vielfältigkeit der möglichen Gefühle". Die Erzählerin lernt Mimi kennen, mit der ihr Bruder auch eine Affäre hatte, und sobald er von ihr hört, nimmt sie in seiner Vorstellung weiten Raum ein. Die Erinnerungen suchen ihn heim. Mimi stammt vom Land und kennt das bäuerische Leben in allen Farben und Formen. Manchmal redet sie viel, manchmal verliert sie sich in Banalitäten, und manchmal stellt sie auch präzise Fragen, "nach meinem Leben in der Stadt, nach Otis' Arbeit, nach Ann, ich wich manchmal aus und manchmal nicht": "Sie erklärte mir Ebbe und Flut, die Worte Nipptide, Springflut, Wasserkante." So wächst eine Vertrautheit, die Erzählerin und Mimi gewöhnen sich aneinander – vielleicht schließen sie sogar eine Art Freundschaft. Mimi trägt ihr "Herz auf der Zunge".

Otis telefoniert mit seiner Ex-Frau. Er erkundigt sich, wie sie lebt, an einem Ort, dem er, der südliche Gefilde vorzieht, nie behagen würde. Sie berichtet von einem ereignislosen Leben: "Ich arbeite, koch mir etwas zu essen, lese mein Buch. Es wird langsam warm hier, und bei Flut gehe ich manchmal schwimmen. Wenn ich es einrichten kann. Ich fahre mit dem Rad zur Arbeit und mit dem Rad zurück ins Haus." Otis kann sich eine solche Existenzweise nicht vorstellen. Zudem denkt er viel nach, mehr als nötig, sammelt Gegenstände, "von denen er denkt, dass wir sie brauchen werden, wenn die Welt untergeht". Manches könnte sich verändern, am Ende aber bleiben eher Ebbe und Flut sowie viele Tage, die einfach so verstreichen, während Sascha ständig von Nike berichtet. Er meint, sie sei vielleicht besessen. Ob aus dieser Irritation über eine junge Frau wirklich Zuneigung erwächst? Die Erzählerin kann sich das nicht vorstellen. Sie weiß aber: "Mein Bruder hat sich sein ganzes Leben nicht für Frauen interessiert. Er hat jede Menge Freundinnen gehabt, manchen bin ich begegnet, Frauen aus völlig verschiedenen Schichten, Taxifahrerinnen, Friseusen, eine Fernsehmoderatorin mit Lippenstift auf den Zähnen, eine Biologin, eine Architektin, eine Tierärztin. Er hat sie alle abserviert, sie haben ihn alle letztlich nicht interessiert. Er interessiert sich auch nicht für Männer, er hat mit sich selber genug zu tun, und das ist alles." Er lebt weiter, altert, grübelt. So schaut er der wunderlichen, wie besessen wirkenden Nike zu, von der er okkupiert zu sein scheint. Eine Nixe ist sie nicht, aber Mimi kennt die regionale Nixengeschichte. Sie erzählt davon, sehr anschaulich, von ihrem Fang und ihrer Schändung. Die Fischer warfen die versehrte Nixe ins Meer zurück. Eine Sturmflut folgte: "Das Wasser hat diese erbärmlichen Leute mit sich gerissen, es hat alles vernichtet, was sie hatten. Es hat alles zerstört." Die Sage bleibt unvergesslich, auch unvergessen. Auf andere Weise gesagt – nicht ohne Grund achten und respektieren Menschen das Meer. Manche lieben die See, fast alle fürchten sie. Das Meer bleibt unberechenbar. Doch noch mehr Grund besteht, so scheint es, andere Menschen zu fürchten und sich vor ihnen zu hüten. Mimis Bruder Arild etwa wollte nie fern vom Meer sein. Die Frage, ob er einmal anderswo gewesen wäre, vereint er: "Nie weggegangen, keine Reise gemacht, nie woanders gewesen. Wüsste auch nicht, wozu."

Mit Tochter Ann besteht ein gelegentlicher Austausch, etwa über Skype: "Sie sagt, Mama. Du hattest neulich mal klingeln lassen. War’s was Wichtiges." Ihr Vater denkt: "Kinder wecken Gefühle in dir und gehen los und lassen dich mit den Gefühlen im Regen stehen. Er würde bestreiten, das jemals gesagt zu haben, aber ich weiß, dass er das gesagt hat. … Er sagte, er hätte durch Ann gelernt, sich um jemanden Sorgen zu machen, für jemanden da, von jemandem abhängig zu sein. Ann hätte ihm das beigebracht – und jetzt sei sie fort, und er wisse nicht, was er mit diesen Einsichten anfangen solle." Die Erzählerin erwidert, sie werde darüber nachdenken, und das tut sie, auch in dieser eigenen, anderen Welt am Meer: "Über dem Acker liegt ein herbstlicher Nebel, kein Rauch aus den Schloten, die Nilgänse lagern in Furchen, grau und weiß, wie Schnee kurz vor Schmelze. Die Sonne steht über dem Deich, sie ist glasig. Ich trage den Tee hinter das Haus und unter das Schleppdach. Das Wasser im Tief ist unbewegt, zinnfarben, ein neues und unbekanntes Element. Die Pferde am anderen Ufer stehen eng beieinander, ich höre sie schnauben, ich kann ihre Hufe auf der harten Erde hören." Die Erzählerin wird noch eine Weile bleiben, vielleicht auch etwas länger. Ist sie zu Hause? In einer neuen Heimat angekommen? Die Welt, in der sie lebt, ob in der Stadt oder auf dem Land, selbst am Meer, erinnert nicht an ein Paradies. Unter Menschen und mit Menschen zu leben ist niemals einfach. Hier wie dort gehen nicht alle Geschichten gut aus – und so endet etwa auch die Geschichte der wunderlichen Nike traurig. Sparsam berichtet Judith Hermann davon, auch von dem Leben der anderen, das weitergeht. Ob die Ich-Erzählerin diesen Ort noch einmal verlassen wird, darüber mag ein jeder Leser für sich nachdenken. Eine Moral von der Geschichte gibt es nicht, natürlich nicht. Alle Heimaten bleiben schwierig. Vielleicht ist es doch für manche gut, an der Küste zu leben. Die See hilft bisweilen, alles andere zu ertragen. Judith Hermanns vielschichtiger Roman erzählt auf eine ganz eigene Weise davon.

Daheim
Daheim
192 Seiten, gebunden
Fischer 2021
EAN 978-3103970357

„Ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Werk mit bedeutendem Inhalt“

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