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Polina Daschkowa: Club Kalaschnikow

Das Reiben an den Verhältnissen

Die 1960 geborene Polina Daschkowa ist nicht umsonst eine Bestsellerautorin in ihrer russischen Heimat und hat sich nicht umsonst mit ihrem Debütroman "Die leichten Schritte des Wahnsinns" auch das nichtrussische Publikum erobert. Ihr zweiter, jetzt auf Deutsch im Aufbau Verlag vorliegende Roman "Club Kalaschnikow" beweist dies.

Es ist ja bekannt, dass es zu den Funktionen eines guten Kriminalromans gehört, etwas über die Gesellschaft zu erzählen, in der er spielt. Und genau dies macht "Club Kalaschnikow". Der Roman ist ein Kurs in neuerer russischer Alltagsgeschichte, der Leser erfährt wie es in der spätkommunistischen und postkommunistischen Zeit Russlands zuging und zugeht. Das fremde Russland erhält ein Gesicht, insbesondere was die neue russische Gesellschaft betrifft. Um was geht es?

Der Besitzer des Casinos "Sternenregen" Gleb Kalaschnikow, verheiratet mit der Primaballerina Katja, ist nicht der angenehmste Zeitgenosse. Er trinkt zuviel, legt sich gerne mit den Menschen an, betrügt seine Frau. Nach einer Theaterpremiere Katjas brechen die beiden frühzeitig von der Premierenfeier auf und fahren nach Hause. Noch bevor sie das Haus betreten können, wird Gleb von einem Schuss tödlich getroffen. Da Auftragsmorde in dem Milieu Glebs nicht ungewöhnlich sind, erwägt man zunächst einen solchen. Schließlich verkehrt Gleb nicht nur in den obersten Kreisen, sondern sein Casino wird auch durch einen "Dieb im Gesetz", einen Paten, kontrolliert, der es wiederum gegen einen Konkurrenten zu verteidigen hat. Aber im Verlaufe der Untersuchungen wird schließlich Olga, die letzte Geliebte Glebs, verdächtigt geschossen zu haben und in Untersuchungshaft genommen.

Soweit zur erzählten Handlung. Das Buch ist aber durch die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, weit mehr als ein Roman um einen Mord. Daschkowa erzählt nämlich ganz langsam, sie leistet es sich, ihre Charaktere mit einer Biografie auszugestalten, in der Zeit zurückzugreifen, auch Nebenfiguren erhalten eine Vergangenheit auf den insgesamt 445 Seiten. Der Leser ist zur Aufmerksamkeit gezwungen, will er sich nicht in den Zeitsprüngen der Lebensläufe verlieren. Daschkowa möchte, dass man ihre Protagonisten versteht, dass ihre Entwicklung und ihre Beweggründe erkennbar sind, und läßt mit dieser Strategie auch das Russland der Vorwendezeit vor dem Auge des Lesers auferstehen. Sie schildert die Überlebensstrategien im alten Russland, das Scheitern mancher im neuen Russland, aber auch wie es anderen gelingt, in der neuen Zeit zu einem schnellen Erfolg zu kommen. "Geld regiert die Welt", diese nicht neue, fast banale und trotzdem so wahre Weisheit ist auch in der neuen russischen Demokratie angekommen und wer zudem noch über das richtige Netzwerk, sprich Beziehungen, verfügt, macht seinen Weg. Unabhängigkeit gepaart mit Erfolg sind praktisch ausgeschlossen. Die Zwänge, denen die Menschen im alten System ausgesetzt waren, sind lediglich ausgetauscht worden, denn die neuen mafiösen Kontrollsysteme sind den alten Beziehungen nicht unähnlich.

Die frühere vorgebliche Einheitsgesellschaft hat sich zu einer zweifachen Klassengesellschaft mit Reichen und Armen entwickelt. Beide Schichten könnten noch weiter aufgesplittet werden und werden von Daschkowa bis hin zum Quasi-Obdachlosen porträtiert. Das Land ist im Kapitalismus angekommen, aber wie auch in den Frühzeiten anderer kapitalistischer Systeme sind die Diskrepanzen unerträglich stark und werden es solange sein, wie der gesellschaftliche Umbau braucht. Die Unterschiede zwischen Reich und Arm lassen an das 19. Jahrhundert Europas und der USA denken, mit den immens Reichen der Gründerzeiten und den bitterarmen Menschen, mit deren Arbeitskraft der Reichtum der anderen geschaffen wurde. Die Schilderungen der Moskauer Wohnverhältnisse sind nur ein Beispiel dafür und erinnern in der Belegungszahl an die Arbeiterbehausungen Berlins oder New Yorks.

Wie Christa Wolf bei der Verleihung des Deutschen Bücherpreises für ihr Lebenswerk noch einmal sagte, bedeutet Literatur auch die Reibung an den Verhältnissen. Und genau das kann Polina Daschkowa als Motivation unterstellt werden. Sie reibt sich an den Umbruchzeiten mit den negativen Ausprägungen, verarbeitet diese literarisch und hält ihren Landsleuten den Spiegel vor, zeigt ihnen in welchem Stadium sie sich befinden. Jeder muss für sich entscheiden, welchen Weg er/sie wählt, um in der neuen Gesellschaft anzukommen. Dabei geht es oft um die schlichte Frage, wieviel Moral man sich leisten kann und wann Moral sich zu Unmoral wandelt. Das Theater in dem Katja tanzt, hätte ohne die Sponsorengelder Glebs nicht existieren können, nur durch die Symbiose mit dem Nachtclub war es möglich das Ballett aufrechtzuerhalten, der Truppe Lohn und damit Brot zu geben. "Entweder stimmte Katja zu, den Platz von Gleb einzunehmen, kopfüber in den dunklen, gefährlichen, übelriechenden Sumpf mit dem schönen Namen "Glücksspiel" zu tauchen; dann brauchte sie sich um das Theater und um ihr eigenes materielles Wohlergehen keine Sorgen mehr zu machen. Oder sie rümpfte weiterhin verächtlich die Nase (... ). Die Wohnung und den Wagen würde ihr niemand wegnehmen, aber das Theater wäre ruiniert. (...) Einige würden ein neues Engagement finden, aber viele würden auf der Straße stehen. Schuld wäre nur sie allein." Katja fühlt sich verantwortlich für ihre Kollegen im Theater, sie muss ihre moralischen Bedenken über den Haufen werfen, um den Menschen in ihrer nächsten Umgebung eine Perspektive für das weitere Leben zu geben. Katja kennt aber auch die Risiken, die sie damit eingeht, denn der Mann, der den Club kontrolliert, kommt ihr als zwar als Freund entgegen, doch darf sie sich keinen Illusionen hingeben, denn Lunjok ist ein "Pate", für den Menschen, die sich seiner Kontrolle entziehen, nicht existieren.

Katja ist durch den plötzlichen Tod ihres Mannes aufgewacht, sie sieht den Dingen nun realistisch ins Auge, wird aktiv und tut, was sie tun muss. Früher kümmerte sie sich nur um das Ballett, ließ alles andere von sich abprallen, nutzte was sie durch den Tanz gelernt hatte: Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung. Diese Eigenschaften wird sie weiterhin brauchen, doch auf andere Art als bisher einsetzen. Sie ist im Club Kalaschnikow, der Metapher für Beziehungen und Abhängigkeiten angekommen. Doch weil Katja die Unterschiede von Moral und Unmoral bekannt sind, wird sich unter ihrer Führung der Club verändern. Und dies ist wahrscheinlich, ob man es mag oder nicht, die realistische Sichtweise eines gesellschaftlichen Wandels und Neubeginns. Der Umbruch kann nicht von heute auf morgen funktionieren. Sinn macht nur das langsame Hineinwachsen in das Neue, versehen mit einem langen Atem, bis die alten Strukturen ihre Macht verloren haben.


von Eva Magin-Pelich - 19. Oktober 2003
Club Kalaschnikow
Polina Daschkowa
Club Kalaschnikow

Aufbau 2002
445 Seiten, gebunden
EAN 978-3351029340