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Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?

Gemeinsame Nenner

Wer sich für Universalien interessiert, kommt um dieses Buch eigentlich nicht herum, denn was Christoph Antweiler, Ethnologe und Professor für Südostasienwissenschaft an der Universität Bonn, hier zusammengetragen hat, ist dermassen umfangreich, klar gegliedert und anschaulich dargestellt, dass man annehmen darf, dieses Buch werde es wohl zum Standardwerk bringen.

Beginnen wir mit ein paar ganz willkürlich ausgewählten (man braucht das Buch nicht an einem Stück zu lesen, auch einfach irgendwo einzusteigen ist ohne weiteres möglich - ein nicht zu unterschätzender Vorteil) Leitgedanken:

"Das leitende Credo ist, dass man erstens den Menschen weder auf Natur noch auf Kultur reduzieren kann und dass zweitens Kultur nicht auf Geistiges begrenzt werden kann, sondern etwas inhärent Soziales ist.

Ich glaube, dass die Faszination durch die Vielfalt der kulturellen Varianten dazu verführt, die Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen auszublenden.

Es scheint selbst eine Universalie zu sein, dass Menschen sich für die 'Natur des Menschen' und spezifischer für das Spannungsfeld zwischen Universalität und Spezifik der Kulturen interessieren.

Auch in noch so partikularistischen Erzählungen sind allgemeine Elemente zu finden, die Aussagen machen, welche über einzelne Personen und Ereignisse hinausweisen. Ein Kernelement erzählter Geschichten ist ihr Potenzial zu Verallgemeinerung."

Wie gliedert man eine solche Fülle von Material?
Christoph Antweiler hat sich für eine Dreiteilung in Gegenstand, Kontext und Systematik entschieden, die er dann wiederum unterteilt, und zwar wie folgt:
1. Gegenstand - Gesellschaftliche Debatten und Menschenbilder; Kulturen unterscheiden und gleichen sich.
2. Kontext - Geistes- und Forschungsgeschichte: der Archipel universalistischer Ideen; Ethnologie als Humanwissenschaft: Credo und Programm.
3. Systematik: Kulturen und Natur des Menschen: bilogisch sind Menschen kulturell; Universalien im Überblick; Methodik: Deduktion, Fallstudien und Vergleichsverfahren; Taxonomie: Formen, Ebenen und Tiefe von Universalien; Erklärungen: Warum existieren Universalien? Kritik des Universalismus: interne und externe Argumente; Synthese: Menschliche Universalien und die Humanwissenschaften.

Wie es sich bei Werken der Wissenschaft gehört, erfährt dann diese Unterteilung noch weitere Unterteilungen. Und auch Glossar, Bibliographie, Anhang, Abbildungsverzeichnis und Register fehlen nicht.

Die beeindruckende Fleissarbeit (was hat der Mann eigentlich nicht gelesen? fragt man sich unwillkürlich) ist das Eine, die immense Materialfülle in eine lesbare Form zu bringen, das Andere. Wie gut ihm das gelungen ist, möge dieser Abschnitt hier beispielhaft zeigen:

"Die Mehrheit phänomenologischer Philosophen hält menschliches Verhalten für letztlich unerklärbar, da die lebensweltliche Erfahrung immer kulturspezifisch sei. Nach Heidegger und Merleau-Ponty werden die interessantesten Verhaltensweisen von Menschen für gerade nicht regelgeleitet gehalten und gelten damit als nicht universalisierbar. Die geringere instinkthafte Determination des Menschen führte Merleau-Ponty zum Aphorismus, dass es die Natur des Menschen sei, keine Natur zu haben. Dagegen gehe ich davon aus, dass menschliches Verhalten und Handeln trotz der enormen Vielfalt kultureller Besonderheiten und Veränderungen nicht beliebig variert, sondern prinzipiell regelgeleitet ist und nur so verstanden werden kann (Holenstein 1981:198). Das ausschliessliche Achten auf Vielfalt und Spezifika ist einseitig, bzw. bietet nur eine Halbwahrheit (Munroe & Munroe 1997:176)."

Es ist ein in vielfältiger Hinsicht anregendes Buch, weil man darin andauernd auf Sätze stösst, zu denen man zustimmend nickt und sich fragt, weshalb man selber nur so schwer auf das Offensichtliche kommt: "Als potentiell universal kam damit auch das in Betracht, was die Natur mit dem Menschen macht (Holenstein 1998a:246)."; "In allen bekannten Sprachen sind häufig verwendete Wörter kürzer als seltener gebrauchte."; "Grundlegend universal ist also der Glaube an die Existenz eines nicht sichtbaren bzw. nicht wahrnehmbaren Bereichs der Welt (not palpable, Peoples & Bailey 2003:292)."

Eine Schatzkiste voll von verständlich dargebotenem Wissen, mit dem sich auseinanderzusetzen lohnt. Auch deswegen, weil man dann informiert über Integration debattieren kann.


von Hans Durrer - 30. September 2010
Was ist den Menschen gemeinsam?
Christoph Antweiler
Was ist den Menschen gemeinsam?

Über Kultur und Kulturen
WBG 2009
425 Seiten, gebunden
EAN 978-3534230198