Eine andere Person
Vor einigen Jahren habe ich völlig fasziniert Christian Jungersens "The Exception" gelesen, einen spannenden und aufwühlenden Krimi, der am D.C.I.G., dem 'Danish Center for Information on Genocide' spielt. Ich nahm also "Du verschwindest" mit der Erwartung zur Hand wiederum spannend und aufwühlend informiert und unterhalten zu werden - und wurde nicht enttäuscht.
Frederik, Rektor einer dänischen Privatschule, ist mit seiner Frau Mia und dem 16-jährigen Sohn Niklas in Mallorca mit dem Auto unterwegs. Normalerweise ein vorsichtiger und besonnener Fahrer, rast er wie ein Verrückter über die Strassen - eine Katastrophe bahnt sich an. Und die tritt dann auch ein, doch anders als erwartet.
Frederik wird mit einem Gehirntumor diagnostiziert, der orbitofrontale Cortex ist beschädigt und das bedeutet, dass der Kranke irrtümlich glaubt, gesund und im Vollbesitz seiner Steuerungsfähigkeiten zu sein. Tatsächlich jedoch sind sein Interesse an anderen Menschen und sein Einfühlungsvermögen kaum noch existent, ist er hemmungslos, distanzlos und überschätzt sich masslos, zudem ist seine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt. Er ist zu einer anderen Person geworden.
Er wird operiert, doch auch nach der Operation ist er nicht mehr der, der er einmal war. Er ist extrem unbeherrscht, die geringsten Kleinigkeiten können heftigste Wutanfälle auslösen. Mia wendet sich an eine Selbsthilfegruppe. Der Anwalt Bernard ist auch Mitglied dieser Gruppe, er hilft Frederik. Mia und Bernard kommen sich näher ... und Bernard entpuppt sich schlussendlich als ebenso gehirngeschädigt wie Frederik.
Die Ehe von Frederik und Mia war schon vor der Operation nicht ideal, doch in den drei Jahren vor seinem Sturz war Frederik ein Traummann. Jetzt hingegen lebt er in einer Parallelwelt, die sich unter anderem dadurch charakterisiert, dass er unfähig zur Empathie zu sein scheint. Und dass er ungerührt und ohne Schuldbewusstsein lügt.
Dann stellt sich heraus, dass er als Schulvorsteher das Bankkonto der Schule geplündert und diese damit ruiniert hat. Und zwar ein Jahr bevor der Gehirntumor bei ihm diagnostiziert worden war. Seit wann, fragt sich Mia. lebt sie schon mit einem Mann, der in einer von seiner Umwelt abgespaltenen Welt lebt? Wann hatte Frederiks mangelnde Impulskontrolle angefangen? Hatten seine Affären, die er vor Jahren mit anderen Frauen hatte, etwa auch damit zu tun? War er in der Zeit, als sie ihn als Traummann erlebte, auch schon gehirngeschädigt?
Mia liest Fachliteratur, lernt viel bei den Treffen der Selbsthilfegruppe. "Dort wissen alle, wie die Zusammenhänge sind. Sie tun nicht nur so." Mit der Zeit beginnt sie, eine Welt wahrzunehmen, von der sie bis anhin keine Kenntnis hatte. "Noch vor wenigen Minuten ahnte ich nicht, dass es diese geheime Welt aus tausenden Familien gibt, die mit Hirngeschädigten leben müssen."
Christian Jungersen ist mit "Du verschwindest" eine überzeugende und beklemmende Darstellung einer gespaltenen Persönlichkeit aus der Sicht von Nahestehenden gelungen. Besonders eindrücklich schildert er, wie Mia mit ihrer neuen Situation klar zu kommen versucht. Da ist ja nicht nur die Krankheit ihres Mannes, da ist auch der finanzielle und soziale Absturz, den sie zu bewältigen hat. Sie beginnt an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln, weiss nicht mehr, was sie glauben soll/kann und verliert zunehmend den Boden unter den Füssen.
Im Internet stösst sie auf die "Iowa gambling task" des Neurologen Antonio Damasio, der zu den Wegbereitern der Neurophilosophie gehört und die Auffassung vertritt, "dass rationales Denken und ethische Bewertungen nicht unabhängig von einem Körper und dessen physischen Reaktionen existieren". Damit wäre Frederik für seine Handlungen nicht verantwortlich ...
Mit "Du verschwindest" ist Christian Jungersen wiederum ein grosser Wurf gelungen. Nicht nur, weil er einen dazu bringt, sich eingehend mit Fragen der persönlichen Verantwortung (haben wir einen freien Willen?) auseinanderzusetzen, sondern auch, weil er eindringlich und überzeugend aufzeigt, wie sich Verhaltensstörungen (abrupte Stimmungswechsel, fehlende Impulskontrolle) eines Einzelnen auf dessen ganze Umgebung auswirken.
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